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Tagung Antisemitismus

Verband Hessischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer VHGLL
Geschichte für heute lehren und lernen!

Bericht von der Jahrestagung 26.3.2022

Antisemitismus - Geschichte und Strukturen im 20. Jahrhundert

Historisches Museum Frankfurt

Programm

9:30

Offizieller Beginn, evtl. noch Prüfung der Teilnehmenden

9:30/40

Begrüßung und kurze Vorstellung des Tagesablaufs durch den Vorsitzenden

9:45-10:30
Vortrag

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber:
Antisemitische Verschwörungsideologien im Kaiserreich und in der Weimarer Republi
k

10:30-11:15

Diskussion

11:15-11:30

Kaffeepause

11:30-12:15
Vortrag

Dr. Niklas Krawinkel:
Antisemitismus und die extreme Rechte in der Geschichte der Bundesrepublik

12:15-13:00

Diskussion

13:00-14:00

Mittagspause

14:00-15:25

Führung durch die Ausstellung Eine Stadt macht mit - Frankfurt und der NS  (>>Infos dazu hier unten)

Abstracts

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber (Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung / Universität Bonn):
Antisemitische Verschwörungsideologien im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Auffassungen von einer „jüdischen Verschwörung“ gab es bereits im Mittelalter, wovon die Behauptungen von „Brunnenvergiftungen“ und „Ritualmorden“ zeugen. Durch die antisemitische und völkische Bewegung im Wilhelminischen Kaiserreich wurde daraus in der deutschen Öffentlichkeit auch eine systematische Verschwörungsideologie. Einschlägige Buchpublikationen kursierten, gesonderte Organisationen entstanden. Bereits mitten im Ersten Weltkrieg fanden einschlägige Auffassungen dann immer größere Verbreitung und insbesondere nach dem Kriegsende große gesellschaftliche Resonanz. Der Boom dieser judenfeindlichen Ideologie steigerte sich noch in der Weimarer Republik, wo nicht nur die NSDAP, sondern viele andere völkische Organisationen derartige Vorstellungen propagierten. Auch die Ermordung von Walter Rathenau wurde u.a. damit begründet. Erklärbar ist diese Entwicklung u.a. durch die Funktionen, welche antisemitischen Verschwörungsideologien eigen sind. Gerade in Krisen- und Umbruchzeiten dienen sie zu Erkenntnis, zur Feindbildprojektion, zu Identität und zur Propaganda. Dieser jeweilige Nutzen wird anhand der problemorientierten Darstellung der Entwicklung aufgezeigt.

Dr. Niklas Krawinkel (Fritz Bauer Institut):
Antisemitismus und die extreme Rechte in der Geschichte der Bundesrepublik

Antisemitismus war und ist das Masternarrativ der extremen Rechten. Während in Teilen dieses Milieus judenfeindliche Äußerungen seit 1945 nur noch verklausuliert zu vernehmen waren, sahen andere keinen Grund zur Mäßigung. Kriegsniederlage und „Schuldkult“, deutsche Teilung, sinkende Geburtenzahlen, Migration – kaum ein Thema das die extreme Rechte bewegte, das nicht letztendlich auf jüdische Urheberschaft zurückgeführt wurde. Der Vortrag wirft Schlaglichter auf antisemitische Inhalte und Gewalt der extremen Rechten in der Geschichte der Bundesrepublik und fragt nach Verbindungslinien zur sogenannten Mitte der Gesellschaft.




Führung durch die Ausstellung des Historischen Museums
Eine Stadt macht mit -
Frankfurt und der Nationalsozialismus

Das Ausstellungsprojekt zum Nationalsozialismus in Frankfurt besteht aus drei Ausstellungskomponenten (vgl. Übersicht).

Die Führung erfolgt durch die Hauptausstellung Eine Stadt macht mit - Frankfurt im NS

Zum Ausstellungsprojekt möchten wir außer auf die Website des Museums selbst auch auf folgende Radiosendungen von HR2 hinweisen, die online noch zur Verfügung stehen (jeweils ca. 52 Min):

Doppelkopf
Am Tisch mit Jutta Zwilling, "NS-Spurenleserin"
https://www.hr2.de/programm/doppelkopf/doppelkopf-mit-jutta-zwilling-ns-spurenleserin,epg-doppelkopf-1028.html

Literaturland Hessen
Austellungseröffnung im Historischen Museum: Frankfurt und der NS
https://www.hr2.de/programm/literaturland-hessen/literaturland-hessen,epg-literaturland-hessen-344.html


Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber lehrt seit 2004 an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung in Brühl am Rhein und ist Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Zuvor war er zehn Jahre lang Referatsleiter in der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz. Er ist auch Mitglied des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Bundestages.

Herr Pfahl-Traughber hat sich in nahezu wörtlich unzähligen Publikationen mit der Geschichte und Gegenwart des Rechtsextremismus und Extremismus überhaupt befasst, beginnend mit seiner Doktorarbeit bei Julius Schoeps über den “antisemitisch-antifreimaurerischen Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat” 1992. Eine Verbindung zwischen alt und neu hat er erstmalig 1998 in seinem Buch Konservative Revolution und Neue Rechte hergestellt.

 

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber:
Antisemitische Verschwörungsideologien im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Hier folgt das Handout von der Veranstaltung

Armin Pfahl-Traughber

Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und gibt ebendort das „Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung“ heraus.

Antisemitische Verschwörungsideologien
im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Entwicklung und Ursachen - Thesen zum Vortrag am 26. März 2022

1. Die Bezeichnung „antisemitische Verschwörungsideologien“ steht hier für judenfeindlich motivierte Auffassungen über die Existenz konspirativer Machenschaften von Juden, wobei dafür keine Belege angeführt werden und innere Widersprüche bestehen.

2. Eine systematisch entwickelte antisemische Verschwörungsideologie kam in Deutschland erst Ende des Ersten Weltkriegs auf und fand dann in den folgenden gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen große soziale Verbreitung.

3. Die damit angesprochene Akzeptanz erklärt sich auch dadurch, dass einschlägige Auffassungen in der jahrhundertelangen Judenfeindschaft seit dem Mittelalter angelegt waren: „Brunnenvergifter“-, „Ritualmord“- und „Teufels“-Vorwürfe.

4. Die antisemitische und völkische Bewegung, die ab den 1870er Jahren entstand, war zwar judenfeindlich ausgerichtet, aber primär an einem sozioökonomischen oder rassistischen Antisemitismus mit nur unterschwelligen Verschwörungsvorstellungen orientiert.

5. Gleichwohl bot die Agitation dieser Bewegung(en) inhaltliche Anschlussstellen und schürte Stimmungen, die später in gesonderten judenfeindlichen Konspirationsbehauptungen münden und einschlägige Wirkungen entfalten konnten.

6. Als deren organisatorische Akteure können Gruppierungen wie der „Reichshammerbund“ oder der „Verein gegen Überhebung des Judentums“ gelten, welche nicht zufällig auch als Herausgeber der gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ wirkten.

7. Insbesondere dieses angebliche „Kronzeugendokument“ für eine „jüdische Weltverschwörung“ forcierte die Verbreitung einschlägiger Verschwörungsvorstellungen, wogegen auch der Beleg des Plagiatcharakters für diese Schrift nicht wirkte.

8. Die große Akzeptanz für antisemitische Konspirationsvorstellungen ergibt sich neben der latenten Prägung der Gesellschaft durch einschlägige Stereotype durch deren Nutzen als (falsches) Erkenntnisinstrument für eine mehrdimensionale Umbruchsituation.

9. Innerhalb von elitären rechtsextremistischen Organisationen wurde der Antisemitismus allgemein wie die antisemitische Verschwörungsvorstellung als „Blitzableiter“ („Alldeutscher Verband“) gesehen, womit negative Emotionen gegen die Juden gerichtet wurden.

10. Dafür gründete man auch antisemitisch-völkische Massenorganisationen wie den „Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund“, der mit großem Ausmaß einschlägige Hetze betrieb, welche mit zur Ermordung von Walter Rathenau führte.

11. Insofern kam derartigen Auffassungen auch eine ablenkende Manipulationsfunktion zu, sollte damit doch insbesondere die untere Mittelschicht gegen die Republik als damaligen demokratischen Verfassungsstaat mental und politisch mobilisiert werden.

12. Die einschlägige Begriffswahl für alle Formen der kulturellen und politischen Moderne macht dies deutlich (auch in dem Bestseller „Der internationale Jude“ von Henry Ford): „Judenparlament“, „Judenrepublik“, „Judenstaat“ etc.

13. Auch in der frühen NSDAP fanden antisemitische Verschwörungsvorstellungen große Verbreitung, wovon Aussagen von Hitler in „Mein Kampf“ und in öffentlichen Reden oder die diversen Publikationen von Alfred Rosenberg als damals wichtiger Stimme zeugen.

14. Ab Mitte der 1920er Jahre lässt sich ein gewisser Rückgang einschlägiger Agitation und Publikationen konstatieren, handelte es sich doch um eine Ära der Stabilität, wo Konspirationsvorstellung meist keine so große Verbreitung mehr finden.

15. Indessen lebte die einschlägige Agitation ab 1927/28 (etwa durch Erich Ludendorff) wieder auf und diente der extremistischen Rechten in der dann folgenden Umbruchphase wieder zur Agitation, aber nicht im gleichen Ausmaß wie zwischen 1918 und 1924.

16. Die Akzeptanz derartiger Konspirationsauffassung erklärt sich durch ihre Funktionen für Erkenntnis und den Nutzen für Organisationen, wobei es dafür affirmative latente Einstellungen gab, welche bis in die Gegenwart hinein präsent sind.

 

Quellen zum Vortrag

1. „Alldeutscher Verband“: Instrumentalisierung der Judenfeindschaft: Für den bewussten Einsatz des Antisemitismus plädierte der Stellvertretende Vorsitzende des „Alldeutschen Verbandes“ Constantin Freiherr von Gebsattel, forderte er doch „die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.“ In diesem Zusammenhang äußerte der Vorsitzende Heinrich Claß: „Ich bin ganz damit einverstanden, daß wie bereits vorgeschlagen, die Judenfrage nicht nur wissenschaftlich-politisch, sondern auch praktisch-demagogisch behandelt wird.“ Und weiter: „Ich werde von keinem Mittel zurückschrecken und mich in dieser Hinsicht an den Ausspruch Henrich von Kleists, der auf die Franzosen gemünzt war, halten: Schlag sie tot, das Weltgericht fragt euch nach Gründen nicht!“. (Protokoll des Geschäftsführenden Ausschusses des „Alldeutschen Verbandes“ zu seiner Sitzung am 19. und 20.10. 1918 in Berlin: Zentrales Staatsarchiv, Potsdam, ADV 121)

2. „Auf Vorposten“: Inhalt der antisemitischen Verschwörungsideologie: Die Publikation beleuchte „von hoher Warte aus die Wege, auf welchen die Geheimbünde der Freimaurer und Juden unter der Führung des Großkapitals die Weltherrschaft erzwingen wollen. Jeder Deutsche müsste sich über den Anteil dieser Geheimbünde an der Vorbereitung zum Weltkriege, an der Verhetzung der Kulturvölker, an den Umwälzungen in Europa und an den Greueltaten der Bolschewisten, Kommunisten und Spartakisten unterrichten.“ (Anzeige abgedruckt in: Ludwig Müller von Hausen, Die Hohenzollern und die Freimaurerei, Charlottenburg 1924, S. 47)

3. Alfred Rosenberg: Erkenntnisfunktion der Verschwörungsideologie: „Das Erscheinen der sogenannten ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ hat Millionen von Europäern die Schleier von den Augen gerissen. … Millionen fanden in ihren plötzlich die Deutung vieler sonst unerklärlicher Erscheinungen der Gegenwart, die in ihren wichtigsten Anzeichen plötzlich nicht mehr als Zufälligkeiten wirkten, sondern als Folgen einer früher geheimen, nunmehr aufgedeckten Zusammenarbeit der Führer scheinbar sich erbittert bekämpfender Klassen, Parteien, Völker.“ (Alfred Rosenberg, Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik (1923), München 1933,S. 7)

4. Adolf Hitler: Feindbildkonstruktion: „Es gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schlichten und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Recht führt. … Dabei muss eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefasst werden, so dass in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf (1923), München 1944, S. 129)

 5. Adolf Hitler, Ankündigung der Judenvernichtung mit verschwörungsideologischem Verweis: „Ich will heute wieder ein Prophet sein. Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ (Adolf Hitler, Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, in: Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Band II. Untergang (1939-1945), Würzburg 1963, S.1058)

Pfahl-Traughber >Wikipedia

Konservative Revolution und Neue Rechte. Rechtxextremistische Intellektuelle gegen den demokratisch legitimierten Verfassungsstaat. Opladen (Leske & Budrich) 1998.

Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Opladen (Leske & Budrich) 2002.

Diskussion

Die Diskussion beschäftigte sich mit der Frage, ob Verschwörungstheorien rational oder irrational zu begreifen seien. Prof. Pfahl-Traugber verwies auf den Doppelcharakter von Verschwörungsmythen. So irrational ihre Inhalte seien, so hätten sie doch eine rationale Funktion für die Protagonisten, da sie - vor allem in gesellschaftlichen Überforderungssituationen - deren psychische Bedürfnisse beförderten. Auch würden sie zweckrational im Kampf mit dem politischen Gegner eingesetzt, wie der Antisemitismus der Nationalsozialisten beweise.

Für den Geschichtsunterricht sei die Thematik sehr gut geeignet, um zu zeigen, wie ein Dualismus von Gut und Böse und die Immunisierung gegenüber Kritik Merkmale von Verschwörungstheorien darstellten.

Diskussion_mit_Pfahl-Traughber

Diskussion mit Prof. Pfahl-Traughber nach seinem Vortrag.. Foto W. Geiger

Einige Aspekte im Einzelnen: Ausführlicher ging Herr Pfahl-Taughber noch auf das naturgemäß große Interesse am “Hotspot” des Antisemitismus in Mittel- und Nordhessen ein. Hier hatte die “Böckel-Bewegung” relativ großen Erfolg, Otto Böckel wurde 1887 erster explizit antisemitischer Reichstagsabgeordneter im Wahlkreis Marburg-Frankenberg, insgesamt gab es 16 direkt, weil durch das Mehrheitswahlrecht gewählte antisemitische Abgeordnete. Er präsentierte sich als Vertreter der Bauern gegen die “Wucherjuden”.

Eine weitere Frage betraf die politische Gegenbewegung. Die demokratischen Parteien schrieben nicht explizit die Bekämpfung des Antisemitismus auf ihre Fahnen, am ehesten reagierte noch die SPD darauf. Es gab aber den 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus in dem Christen und Juden öffentlich gegen den Antisemitismus auftraten. Eine herausragende Persönlichkeit dabei war der Historiker Theodor Mommsen.

Der Referent ging dann auch noch einmal auf ideologische Schnittmengen zwischen linkem und rechtem Antisemitismus ein, die sich beim “Geld-Thema” (“jüdisches Kapital” usw.) ergaben. So hatte Gottfried Feder mit seinem Thema “Brechung der Zinsknechtschaft” erheblichen Einfluss auf Hitler und auf die das Programm der NSDAP. Die bekannte Unterscheidung vom “raffenden und vom schaffenden Kapital” propagierte jedoch auch Henry Ford (siehe oben).

Im gesamtpolitischen Kontext sei jedoch auch zu berücksichtigen, dass der Antisemitismus für die NSDAP wichtig war für die interne ideologische Orientierung und sich auch publizistisch äußerte, aber kaum propagandistisch im Wahlkampf in der Weimarer Republik. Auf den Wahlplakaten spielte der Antisemitismus praktisch keine Rolle und man kann davon ausgehen, dass er auch für die Wählerstimmenl für die NSDAP nicht entscheidend war. Sozial am stärksten verankert war der Antisemitismus im Mittelstand, hier ging es z.B. um die Konkurrenz der neuen Kaufhäuser.

Die antisemitische Propaganda erfüllte daher auch funktionalistische Ziele (siehe oben), die in den Protokollen ausgebreite Vorgehensweise der angeblichen jüdischen Verschwörer zur Eroberung der Weltherrschaft wurde von Hitler sogar für seine Ziele adaptiert, wie bereits 1936 der emigrierte Sozialdemokrat Alexander Stein in einem bemerkenswerten Buch analysierte: Adolf Hitler, Schüler der Weisen von Zion.


Dr. Niklas Krawinkel (Fritz Bauer Institut):
Antisemitismus und die extreme Rechte in der Geschichte der Bundesrepublik

Dr. Niklas Krawinkel ist seit 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fritz-Bauer-Insitut und am Lehrstuhl zur Geschichte und Wirkung des Holocaust der Universität Frankfurt. Aktuell beschäftigt er sich vor allelm mit der Geschichte des Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945. Für seine Promotion bei Professor Conze in Marburg - den wir ja nun sehr gut kennen - befasste er sich mit einem nicht prominenten Nationalsozialisten, Volkstumsreferent an der deutschen Gesandtschaft in Bratislava, Slowakei, während des 2. Weltkrieges und später zwanzig Jahre Oberbürgermeister von Tübingen: Hans Gmelin. Anhand seiner Person werden im weiteren Sinne die Übergänge vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik thematisiert.

Einführend legte Herr Krawinkel dar, dass der Antisemitismus auch in der Nachkriegszeit und im Kaltern Krieg das Master-Narrativ der extremen Rechten darstellte und die NS-Kriegspropaganda vom “Internationalen Judentum”, das sich gegen Deutschland verschworen habe, weiterführte, indem dies nun auf die Besatzung und Entnazifizierung projiziert wurde. Dabei wurden anfangs antisemitische Vorurteile zum Teil noch relativ offen geäußert, z.B. in Spruchkammerverfahren der Entnazifizieruing, im Laufe der 1950er Jahre nahm jedoch die gesellschaftliche Tabuisierung zu. Das antisemitische Denken blieb dennoch bestehen und suchte sich verklausuliert seinen Weg in die Öffentlichkeit,.von codierter Sprachregelung intern in die “Mitte der Gesellschaft”, z.B. über die Begrifflichkeit rund um “international”

Eine der ersten Zeitschrift war der ab 1951 erscheinende Deutschland-Brief aus Berchtesgaden, später in Barcelona gedruckt, den Krawinkel als “Erbe des Stürmers” bezeichnete. Ferner Der Weg / El Sendero, aus Buenos Aires, der seit 1949 quasi das Zentralorgan der dorthin geflüchteten Nazis war und immerhin eine Abonnentenzahl von 16.000 erreichte. Als intellektueller Kopf wirkte daran federführend auch Johann von Leers mit.

Anhand einiger Propagandabilder und Karikaturen vermittelte der Referent Eindrücke von diesen Organen. Inhaltlich wurde der neue Staat Israel quasi als Erfolg des 2. Weltkriegs ausgegeben und als neuer Mittelpunkt, von dem aus sowohl die USA als auch die UdSSR - ganz wie die alte NS-Propaganda - gelenkt würden. Damit verbundene Themen drehten sich um die “Bestrafung” der Deutschen, das Luxemburger Abkommen usw.

Der ehem. Luftwaffen-Oberst der Wehrmacht Rudel emigrierte 1948 nach Argentinien, obwohl er in der Bundesrepublik nichts zu befürchten hatte, aus Abschau gegenüber der dortigen Nachkriegsgesellslchaft. Durch seine Verbindungen blieb er eine wichtige Galionsfigur im Übergang zwischen Alt- und Neo-Nazis. Der Kreis von Alt-Nazis um Werner Naumann unterwanderte in systematisch die FDP in NRW, bis dies 1953 von den Briten aufgedeckt wurde.

Eine lange Kontinuität von 1951 bis 2009 verkörperte die Zeitschrift Nation Europa (auch Nation und Europa). Hier wurde die angebliche Kriegsschuld der Juden wiederholt, die Nürnberger Anklagebehörde sei aus Juden zusammengesetzt, es finde eine Umerziehung der Deutschen statt usw. Zu den Protokollen fand man ein pragmatisches Verhältnis: das Dokument sei nicht echt, der Inhalt stimme aber. Auch zeigte sich hier ein israelbezogener Aspekt des Antisemitismus, der nicht erst in späterer Zeit entstanden ist.

In die Mitte der Gesellschaft stießen die Amnestiekampagnen, die letztlich nur aus Angst vor der Reaktion des Auslands keine parlamentarische Mehrheit fanden. Eine direkte politische Vertretung im parlamentarischen Rahmen gelang nur regional der Deutschen Reichspartei (gegr. 1950), die, anders als die Sozialistische Reichspartei, nicht verboten wurde, wohl weil sie sich taktisch gemäßigt nationalkonservativ gab.. Sie war ein Bindeglied zwischen Altnazis und Jüngeren und wurde dann 1964 ein Teil der Sammlungsbewegung, die zur NPD-Gründung führte. Aus der DRP kamen auch die Initiatoren der Hakenkreuzschmiereien, die Ende der 1950er jahre von Köln aus eine spektakuläre antisemiktische Welle auslösten. Dis war der Kulminationspunkt einer seit Mitte der 1950er Jahre zu verzeichnenden Radialisierung, die auch vereitelte Attentatspläne auf Juden beinhalteten. Der 1956 Bund nationaler Studenten wurde 1961 verboten.

In den 1970er Jahren trat die Holocaustleugnung in den Vordergrund, v.a. durch Manfred Roeder (geb. 1929), und Erwin Schönborn (geb. 1914), der zum Zirkel um Nation Europa angehörte, und Thies Christophersen (geb. 1918).

In Verbindung mit dieser noch älteren Generation kam es dann in den 1970er Jahren zurm Generationsübergang zu den Neo-Nazis, die nach 1945 geboren sind, führend waren: Michael Kühnen und Walter Kexel. Michael Kühnen initiierte 1978 mit der Aktionsfront Nationaler Sozialisten in Hamburg die “Auschwitz-Wahrheit-Aktion”, bekannt als “Eselsmasken-Aktion”, die später oft wiederholt wurde. Mit dem Frankfurter Kexel vollzog sich auch der Übergang zu terroristischen Aktionen (Anschläge auf US-Einrichtungen) in Anlehnung an die RAF. Sein Partner Odfried Hepp schloss sich der Wehrsportgruppe Hoffmann an. Kexel verübte Selbstmord nach seiner Verurteilung 1985. Zusammen mit Kexel und Hepp gehörte auch Jürgen Schubert zur Frankfurter Szene Anfang der 1980er Jahre (Volkssozialistische Bewegung.

Dabei fand auch eine Orientierung auf den Kampf gegen Zuwanderung statt, die ideologisch verbunden wurde mit der angeblichen jüdischen Zersetzungsstrategie gegen das deutsche Volk. Dieses Ideologem spannt sich bis zum Anschlag in Halle und gehört zur umfassenderen Theorie vom “Großen Austausch” oder der “Umvolkung”, die auch innerhalb der AfD vertreten wird.

 

Diskussion

In der Diskussion wurde deutlich, dass Antisemitismus in allen Kontexten existiere; dies werde gegenwärtig an den Verschwörungstheorien gegen Soros deutlich.

In der Diskussion wurde gefragt, ob die These, dass die Hakenkreuzschmierereien von 1959/60 von östlichen Geheindiensten gesteuert gewesen seien, um die Bundesrepublik zu diskreditieren, belegt werden könne. Diese These ist jedoch umstritten. Des Weiteren wurde in der Diskussion am Beispiel der Hepp-Kexel-Gruppe darauf Bezug genommen, dass von dieser Gruppe der Neuen Rechten eine Querfront mit dem „antiimperialistischen Freiheitskampf“ der RAF intendiert gewesen sei. Solche Querfrontkonzepte existierten auch gegenwärtig bei der extremen Rechten, was sich besonders in der Angleichung der Aktionsformen bei Demonstrationen zeige.

Auch die Rolle des Internet für die Extreme Rechte war Thema; das Internet erfindet nicht den Rechtsextremismus, gibt ihm aber eine Plattform zur Verbreitung mit bisher nie dagewesenen Möglichkeiten. Während die radikalen Negationismusseiten heute weitgehend aus der Suche herausgefiltert würden, verbreiten sich antisemitische Stereotypen und Vorurteile auf niederschwelligerer Ebene dagegen immer mehr auch auf Webseiten, die nicht explizit rechtsextrem sind.


Krawinkel >Fritz Bauer Institut

Belastung als Chance. Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen (Wallstein) 2020.

Leider nur wenige Infos dazu im WWW, außer auf rechtsextremen Seiten, die wir hier nicht zitieren:

 cf. Deutschland-Brief, Eintrag in der >Zeitschriften-Datenbank

Der Weg / El Sendero >Wikipedia

Johann von Leers >Wikipedia

Luxemburger Abkommen >Wikipedia

 

Naumann-Kreis >Wikipedia

Nation  und Europa >Wikipedia, >Belltower

 

 

 

DRP >Wikipedia

Michael Lausberg: Schändung der Kölner Synagoge vor 55 Jahren - ein kritischer Rückblick,>HaGalil, 17.12.2014
Marc-Simon Lengowski: Die antisemitische Welle 1959/1960, >Hamburger Geschichtsbuch [2016]
Bund nationaler Studenten >Wikipedia

Wikipedia: >Manfred Roeder, >Erwin Schönborn, >Thies Christophersen, >Michel Kühnen, >Walter Kexel, >Odfried Hepp, >Wehrsportgruppe Hoffmann

Führung durch die Ausstellung
Eine Stadt macht mit - Frankfurt und der NS
und weitere Infos zu den parallelen Ausstellungen

Die Führung durch die Ausstellung, die die Teilnehmenden an unserer Jahrestagung in zwei Gruppen bekamen, zeigte eine sehr gut konzipierte und realisierte Ausstellung zu einem Thema, das uns als Geschichtslehrer*innen ja nicht neu ist, das aber hier auf äußerst eindrucksvolle und detaillierte Weise für Frankfurt konkretisiert wurde. Der Alltag unter dem Nationalsozialismus wurde in seinen vielfältigen Facetten präsent, darunter auch verfilmte Beobachtungen von Zeitgenossen Filme zur Zeit der letzten Reichtstagswahlen 1932/33 und später. Täter- und Opferbiographien der NS-Verfolgung sowie Widerstand und auch die spätere “Entnazifizierung” mit zahlreichen Dokumenten veranschaulichten die Epoche in ihren Übergängern von vor 1933 und bis nach 1945 und werfen zu letzterem einen Blick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Hinblick auf den Umgang mit der gerade zu Ende gegangenen Vergangenheit.

So wurden nach 1945 die Straßennamen schnell wieder umbenannt, die in der Nazi-Zeit neue Namen bekommen hatten, wogegen der Oberbürgermeister (1933-45) Friedrich Krebs, ein Nazi der ersten Stunde und mitverantwortlich für die NS-Rassenpolitik in Frankfurt und die Deportation von 10000 Jüdinnen und Juden aus Frankfurt in die KZs, im Spruchkammerverfahren 1948 nur als “minderbelastet” eingestuft wurde, denn er habe “sein Amt durchaus gerecht, korrekt, sauber und unbeeinflusst durch nationalsozialistische Tendenzen ausgeübt”.

 


Die Ausstellungen

Das Historische Museum Frankfurt behandelt die Zeit des Nationalsozialismus in drei parallelen Ausstellungen:

Die Hauptausstellung Eine Stadt macht mit - Frankfurt und der NS bis zum 11.9.2022 kann man auch eingeschränkt online besichtigen, so gibt es online eine Audiotour zu einigen zentralen Exponaten. 

Begleitend dazu gibt es wieder das Stadtabor auf Spurensuche im Heute - Frankfurt und der NS bis zum 11.9.2022. Thema des Stadtlabors ist immer der sujektive Blick der Erinnerungskultur und der Blick auf diese Erinnerungskultur. Damit verbunden ist auch die Ausstellung Nachgefrfagt: Frankfurt und der NS im des Jungen Museums für Menschen ab 10 Jahren. Der Zugang ist auch hier erinnerungskulturell über Zeitzeug*innen-Interviews gewählt und es gibt auch eine Leitfaden für erwachsene Begleitpersonen.

Außerdem gibt es ein Rückblick auf die Tagung Frankfurt und der Nationalsozialismus mit Audios der Vorträge.

HistMusFfm_NS

>Historisches Museum

Zu Friedrich Krebs siehe den Eintrag von Heike Drummer im >Frankfurter Personenlexikon.
Friedrich Krebs (1894-1961): NS-Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main >Frankfurt am Main 1933-1945
Fredrick Krebs auf >Wikipedia

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