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1917-2017

Verband Hessischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer VHGLL
Geschichte für heute lehren und lernen!

Zum hundertsten Jahrestag der russischen Februar- und Oktoberrevolution

 

Auf dieser Seite:

Aktuell / Links und Infos

Rückblick auf die Jahrestagung 2017des VHGLL

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Postkarte mit Blick auf die Duma, 1917
Februarrevolution in Petrograd
Wikimedia Commons

Aktuell:

Im Sommersemester 2017 veranstaltet das Institut für Geschichte der TU Darmstadt eine (öffentliche) Ringvorlesung:
Das Jahr 1917 - Auftakt zum kurzen 20. Jahrhundert?
Dienstags, 18:15, S1/03, Raum 223 im Alten Hauptgebäude. Mehr Infos hier.

Links und Infos:

Dokumente online:

Manfred Hildermeier (Hg.): Die russische Revolution (1989), ursprünglich als Print erschienen in der edition suhrkamp NF Bd. 534, jetzt online bei der Bayrischen Staatsbibliothek: hier

Helmut Altrichter / Heiko Haumann (Hgg.): Die Sowjetunion: Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod (1917-1953), Dokumente, ursprünglich erschienen beim dtv München 1986, online bei der Bayrischen Staatsbibliothek: hier

100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte, zusammengestellt vom Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Friedrich-Alexander-Universtität Erlangen, digitalisiert von der Bayrischen Staatsbibliothek: hier.

Oktoberrevolution, Sammeldossier, BpB, online

Sowjetunion I: 1917 - 1953, BpB, Informationen zur politischen Bildung Nr. 322/2014, online

Didaktische Angebote:

Geschichte lernen Nr. 175, Januar 2017: Russische Revolution

Praxis Geschichte 3/2017: Russische Revolution

 

Ausstellungen etc.:

1917. Revolution. Russland und Europa. Ausstellung des Deutschen Historischen Museums mit dem Schweizerischen Nationalmuseum, vom 20.10.2017 bis 15.4.2018 im DHM in Berlin. >DHM

Der Kommunismus in seinem Zeitalter. Ausstellung von Gerd Koenen, herausgegeben von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikattur und dem Deutschen Historischen Museum, ausleihbare Wanderausstellung - mehr dazu hier.

 

Historische Rückblicke und Kommentare zum Jubiläum in den Medien:

100 Jahre russische Revolution - Revolutionsjubiläum ohne Held, von Ulrich M. Schmid, Neue Zürcher Zeitung, 8.11.2016, >NZZ

1917: Das unmögliche Jahr, von Jörn Leonhard, Die Zeit, 19.1.2017, >Zeit Online

1917: Das Jahr, in dem Russland die Welt erschütterte, von David Rennert, Der Standard, 22.2.2017, >derstandard.at

Fremde Vergangenheit: 100 Jahre russische Februarrevolution, vcon Volker Wagener, Deutsche Welle, 23.2.2017, >DW

Hundert Jahre Februarrevolution in Petrograd - Hundert Jahre Umbruch. Die Fragen von 1917 bleiben offen, von Jan C. Behrends, 2.3.2017,>zeitgeschichte online

1917 - Relief eines Schlüsseljahres, von Jörn Leonhard, FAZ, 10.3.2017, >FAZ-Online

 

Infos und Kommentare zur Geschichte der Revolutionen und ihrer Nachwirkungen:

Oktoberrevolution, Aus Politik und Zeitgeschichte 44-45/2007, online bei und als pdf-download de >BpB

Sowjetunion I: 1917-1953, Informationen zur politischen Bildung 322, 2/2014, online: >izpb

Bilder der Oktoberrevolution bei akgimages: hier

Wird ergänzt

 

Bücher und Zeitschriftenbeiträge unserer Referenten:

Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München (Beck) 2009. Rezension auf H/Soz/Kult

Ders., Russland 1917 - Ein Land auf der Suche nach sich selbst, erweiterte Neuauflage, Paderborn (Schöningh) 2017. Rezension auf Deutschlandradio Kultur

Ders., Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, München (Beck) 4., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2013.

Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München (Oldenbourg) 2006.

Joachiim Hösler. Sowjetische und russische Interpretationen des Stalinismus. In: Stalinismus. Neue For-schungen und Konzepte, hrsg. von Stefan Plaggenborg, Berlin 1998, S. 35-68.

Ders., Aufarbeitung der Vergangenheit? Der Große Vaterländische Krieg in der Historiographie der UdSSR und Rußlands. In: Osteuropa 55 (2005) 4-6, S. 112-125.

Ders., Perestroika und Historie. Zur Erosion des sowjetischen Geschichtsbildes. In: GegenErinnerung, siehe oben, S. 1-25.

Ders., Lernen aus der Geschichte. Wolfgang Ruges Beitrag zur Geschichtsschreibung der Sowjetunion. In: Wolfgang Ruge. Beharren, kapitulieren oder umdenken. Gesammelte Schriften 1989-1999, hrsg. von Friedrich-Martin Balzer, Berlin 2007, S. 41-78.

 

 

Rückblick auf die Jahrestagung 2017 des VHGLL

1917-2017:
Russlands Februar- und Oktoberrevolution im Kontext der russischen und europäischen Geschichte. Historischer Rückblick und didaktischer Ausblick für den  Geschichtsunterricht

Einleitung durch den Verbandsvorsitzenden

In der kalendarisch ersten, allerdings schon als Nr. 2 gezählten Ausgabe der Zeit vom 5. Januar zitiert Jörg Leonhard in seinem Rückblick auf das „unmögliche Jahr 1917“ aus dem Tagebuch von Harry Graf Kessler, der am 31. Dezember 1917 im abgelaufenen Jahr den nicht vorhersehbaren „größten Umschwung in der Weltlage“ erkannte, und zwar auf der einen Seite durch die „russische Revolution“ und den „russischen Frieden“, auf der anderen durch die, wie er schrieb, „Einmischung Amerikas in Europa.“[1] Heute wissen wir, dass es bei diesem „russischen Frieden“ nicht blieb, sondern 1917 , wie Leonhard ergänzt, den eigentlichen Beginn des Kalten Krieges darstellt, unterbrochen nur durch die Konfrontation mit einem anderen und, was Europa angeht, gemeinsamen dritten Feind m Zweiten Weltkrieg. Das von Alexis de Tocqueville prophetisch schon 1848 vorhergesehene[2] amerikanisch-russische Zeitalter begann 1917 und endete (vorübergehend) mit dem Untergang der Sowjetunion im Dezember 1991.

Mit dem Rückblick auf das Jahr 1917 möchten wir allerdings auch der Februarrevolution in Russland den gebührenden Stellenwert in der Geschichte zumessen, der lange Zeit nicht nur in der sowjetischen Geschichtsschreibung von der darauf folgenden Oktoberrevolution überschattet wurde. Ob die Ereignisse des „roten Oktober“, nach gregorianischem Kalender auf den 7. November fallend, überhaupt analog als Revolution gelten können, mögen die hier anwesenden Experten besser beurteilen als ich.

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Dr. Wolfgang Geiger, Vorsitzender des VHGLL

Zusätzlich zu fachwissenschaftlichen Fragen an die Geschichte müssen wir uns auch fragen, ob mit dem Untergang der Sowjetunion dieses Thema nicht, derselben Logik folgend, wiederum im unserer Wahrnehmung so minimiert wurde, dass man 1917 überblättert oder allenfalls mal ganz schnell im Unterricht abhandelt. So taucht doch für viele Schülerinnen und Schüler die Sowjetunion recht abrupt 1941 als Kriegsgegner, ihre Bevölkerung als Opfer und ihr Territorium als Terrain deutscher Vernichtungspolitik auf, wenn nicht Stalin erst gar 1945 als Teilnehmer der Potsdamer Konferenz und angehender Hegemon über halb Europa in Erscheinung tritt. Vielleicht übertreibe ich ja, aber ich sehe ja selbst, wie schwierig es ist, die richtigen Akzente zu setzen und auch alle unter ein Dach zu bekommen.

Diesen Fragen stellen wir uns auch auf unserer Veranstaltung.

[1] Jörg Leonhard: „1917: Das unmögliche Jahr“, in: Die Zeit N°2, 5.1.2017, S. 19.
[2] Cf. Alexis de Tocqueville: De la Démocratie en Amérique, t. 2, Paris (Pagnerre), 1848, S. 413.

 

Das Programm in der Übersicht:

09.45    Dr. Wolfgang Geiger (Frankfurt), Vorsitzender des VHGLL: Begrüßung und Eröffnung der Tagung

10.00    Prof. Dr. em. Helmut Altrichter  (Erlangen): Die Revolutionen von 1917 im Kontext der russischen und  europäischen Geschichte
mit anschließender Diskussion

11.15     Pause

11.30     Prof. Dr. Joachim Hösler (Marburg): Die Revolutionen von 1917 aus sowjetischer Sicht
mit anschließender Diskussion

13.00     Mittagspause

14.00     Prof. Dr. Michael Wagner (Gießen): Die Februarrevolution und die russische Geschichte. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven
mit anschließender Diskussion

15.15    Ende der Tagung

 

 

Berichte:

Prof. Dr. em. Helmut Altrichter  (Erlangen):
Die Revolutionen von 1917 im Kontext der russischen und  europäischen Geschichte

Ausgehend vom Gemälde “Der Bolschewik” von Kustodiev erklärte Prof. Altrichter Selbstverständnis und Realität der Bolschewiki als einer anfänglich kleinen Splittergruppe mit ausgeprägtem Avantgarde-Bewusstsein. Im Rücklick, wie auf dem Bild, folgten die Massen dem “Bolschewiken”, während diese in Wirklichkeit die Forderungen der bäuerlichen Massen - Freiden, Landverteilung - gar nicht in ihrem Programm hatten und “alle Macht den Räten” eine spontane Idee Lenins war.

Am anderen Ende der Zeittafel stand Ilja Glasunows “Das ewige Russland” von 1988, einem Monumentalgemälde, auf dem er hundert Generationen russischer Geschichte durch ihre führenden Persönlichkeiten darstellen, wovon die sowjetische Epoche entsprechend nur einen Teil ausmachte.

So stand am Anfang die alles umwälzende Revolution, am Ende deren Integration in eine tausendjährige Geschichte. Schon am Ende der Sowjetära fand eine schleichende “Umwertung aller Werte” statt.

Durch ein Foto, das demonstrierende Frauen in Petrograd im Februar 1917 zeigte, die mehr Brot forderten, stieg der Referent dann in die Geschichte der Feruarrevolution ein und machte deutlich, wie sehr es sich dabei um eine echte Volksrevolution handelte.

Im Folgenden wurden die wichtigsten strukturellen Aspekte vorgestellt:

1. politischer Systemwechsel
2. soziale Revolution
3. nationale Sezession der Randgebiete
4. Alltagsorgie von Tod, Hunger, Gewalttaten
5. Kulturrevolution

1. Die Aussichtslosigkeit des Krieges mit seit 1015 festgefahrenen Fronten und 1,8 Mio Toten, Verwundeten und Kriegsgefangenen, mangelhafter Ausrüstung, und alles in allem einem Krieg, auf den die Wirtschaft nicht vorbereitet war, erzeugte einen immer stärkeren Protest, der die Not in Demonstrationen und Streiks zum Ausdruck brachte, aber auch ein politisches Aufbegehren gegen das Zarenregime und für Demokratie. Auch in den Institutionen wie der Duma, dem Parlament nach der Revolution von 1905 wieder weitgehend entmachteten Parlament, trafen Vertreter verschiedener Tendenzen  interfraktionelle Absprachen und forderten seit dem Spätsommer 1915 Reformen. Der Zarenhof nahm diese Realität jedoch kaum wahr und dachte, Protest wie gewohnt in autokratischer Manier beantworten zu können.

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Kustodiev_The_Bolshevik-small

Leon Kustodiev: Der Bolschewik, 1920
Wikimedia Commons

Ende Februar 1917 gab es dann den Befehl zur Niederschlagung der Demonstrationen, den die Truppen verweigerten und zu den Aufständischen überliefen. Während die Elite einen Staatsstreich ins Auge gefasst hatte, sah sie sich jetzt mit einer Revolution der Massen konfrontiert. Die staatliche Autorität verfiel schnell, die Provisorische Regierung, die aus der Duma heraus gebildet wurde, musste sich von einer anfänglich eher konservativen Ausrichtung nach links öffnen und im April Menschewiki (gemäßigte Sozialdemokraten) und Sozialrevolutionäre in die Regierung aufnehmen, deren Chef später dann Alexander Kerenski wurde. Kerenski hatte als Rechtsanwalt linke Oppositionelle verteidigt und vertrat Positionen der Menschewiki.

2. Ziel der Provisorischen Regierung war die Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung. Doch zunächst musste die Tagespolitik bewältigt werden und die bestand zuvorderst in der Kriegsfrage, hinzu kam eine wirtschaftlich und sozial katastrophale Lage. Der Aufstand und der Zerfall der Institutionen hatte die Hemmschwelle der Gewalt gesenkt, überall fanden Plünderungen statt, während die Regierung auf dem Land Gutsvorräte requirieren ließ. Die Bauern drängten auf Reformen, Arbeiter-und Soldatenräte blieben weiter aktiv. In dieser Situation gab Lenin seine Aprilthesen heraus, worin er mit “Alle Macht den Räten!” auf die Radikalisierung der Revolution und den Sturz der Provisorische Regierung setzte. Die Partei der Bolschewiki war in dieser Phase zum Teil orientierungslos und in ihrer Führung über die weitere Strategie höchst zerstritten. Währenddessen wurde die Partei jedoch zum Sammelbecken für die Enttäuschten, die die Partei in den Räten von Moskau und Petrograd an die Macht brachten.

Durch den Putsch der Bolschwiki mit Hilfe des Petrograder Sowjets am 6./7.11. gelingt es ihnen an die Macht zu kommen.-Aus Sicht der Bolschewiki handelte es sich um eine zweite, proletarische Revolution nach der bürgerlichen im Februar.

3. Die Auflösung der zaristischen Macht setzte auch Autonomiebestrebungen an den Rändern des Russischen Reiches in Gang, die nach dem Oktober und im Bürgerkrieg auch in Opposition zur bolschewistischen Revolutionsregierung stehen. Stalin, selbst Georgier, sieht die Lösung in der Gewährung von Autonomie bei gleichzeitiger Durchsetzung der Revolution. 1922 wird die Sowjetunion auf föderalistischer Grundlage gegründet, die Verfassung betont die Freiwilligkeit des Eintritts und sieht die Möglichkeit des Austritt vor. In den 1989er Jahren leben die Erinnerungen an die Entstehung der Sowjetunion auf.

4. Die allgemeine Erfahrung von Gewalt aus Krieg, Revolution und Bürgerkrieg prägen Gesellschaft und Politik auf Jahrzehnte hinaus, der Übergang zum Stalinismus erfolgt sozusagen fließend. Die Orgie von Hunger, Tod und Gewalt wurde auch von zeitgenössischen Zeitungen wahrgenommen und kommentiert, z.B. durch Gorki und Babel. Erst in den 1990er Jahren wurden die Archive geöffnet und erzeugten einen Schock über die damalige Forderung führender Bolschewiki nach Lynchjustiz.

In der Bürgerkriegsphase bis 1922 waren 13 Mio Bevölkerungsverlust zu verzeichnen, 2 Mio Tote jeweils in der bewaffneten Truppe und unter den Zivilisten sowie 2 Mio Flüchtlinge, 300.000 fielen antisemitischen Pogromen zum Opfer, der Rest fiel der Hungerkatastophe zum Opfer. Im Verlgeich dazu betrug die Zahl der Gefallenen im Weltkrieg 1,6 Mio.

5. Damit kontrastierend vollzog sich auch eine Kulturrevolution, die zunächst zu einer Förderung avantgardistischer Künstler durch die Bolschewiki führte, alles, was neu war, verdiente Förderung: ein neuer Mensch und eine neue Gesellschaft sollten entstehen. Aus der Vielfalt der miteinander konkurrierenden Strömungen schälte sich eine Art “linker Futurismus” heraus, der eine politische Mission übernahm, das Neue entsprechend künstlerisch zu exaltieren und die alte russische Erinnerungskultur durch eine neue revolutionäre zu ersetzen. An herausragender Stellle ist hier der Film zu nennen.

Prof. Dr. Joachim Hösler (Marburg):
Die Revolutionen von 1917 aus sowjetischer Sicht

Prof. Hösler teilte seinen Vortrag in die entsprechenden Phasen der sowjetischen Revolutionshistoriographie ein:

1. 1920-28; 2. 1928-53; 3. 1953-73; 4. 1973-86; 5. 1987-91; 6. Seit 1991

Zu Beginn stellte er den Generationen prägenden Revolutionsforscher Isaak Israil’evic Minc (1896-1991) vor, der, aus einer jüdischen Arbeiterfamilie stammend, Revolutionsteilenehmer 1917-20, und 1926 Absolvent des Instituts der Roten Professur wurde. 1932-49 lehrte er an der Lomonossov-Universität sowie 1937-49 an der Parteischule des ZK der KPdSU und wurde 1936 korrespondierendes sowie 1946 Vollmitglied der Akademie der Wissenschaft. 1962 wurde er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates zur Erforschung der Oktoberrevolution und wurde damit erster “Revolutionsforscher”. Bis 1973 gab er drei Bände der “Geschichte des Roten Oktober” heraus und erhielt mehrere Auszeichnungen. Erst 1990 wurde es als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates abgelöst.

Gegenüber dieser Musterkarriere war die Realität der Revolutionsgeschichtsforschung jedoch viel bunter, betonte der Referent.

1. Die erste Phase war durch Sammlung und Dokumentation (“Istpart”) geprägt, schon verbunden mit einer politischen Rechtfertigung, die auch zur Gründung des Instituts der Roten Professur 1921 führte. Hervorgehoben wurde die Herausbildung eines “echten Kapitalismus” mit einer “echten Arbeiterklasse für sich”. Damit sollte deren Bedeutung schon für die Februarrevolution deutlich werden, die “in die Hände der Bourgeoisie gefallen “ sei. Der “Januskopf” der Oktoberrevolution zeige sich in der Vollendung der Februarrrevolution und gleichzeitig neuen proletarischen Revolution, in der Spontaneität und Organisiiertheit.

2. Die zweite Phase ist durch Stalins Herrschaft geprägt: zwei Drittel der Absolventen der Roten Professur sind Repressionen zum Opfer gefallen, vom ersten Jahrgang überleben 45 von 52 die Säuberungen nicht. Unter Mihail Pokrovskij ging es um die Zerschlagung der “bürgerlichen Geschichtswissenschaft” 1929/30, 1932 verstarb er jedoch schon, was dann bereits eine Kritik an der “Pokrosvkij-Schule” ermöglichte. Die “Pokrosvkij-Schule” setzte Sowjetpatriotismus gegen Internationalismus, die vorsowjetische Geschichte wurde aufgewertet, z.B. die russische Expansion, die Sowjetunion wurde als “synthetische Staatsnation” verstanden (Formulierung von Hans Lemberg, dt. Hist.). Die russische Revolution wurde weiter im sowjetischen Sinne umgedeutet: Die Februarrevolution sei schon eine proletarische Revolution gewesen, die durch Opportunisten verraten wurde, der Oktober 1917 eine rein sozialistische Revolution. Stalins Rolle dabei wurde überhöht und die Denunzierung von “Kapitulanten, Verrätern, Feinden des Volkes” rechtfertigte Repressionsmaßnahmen bis in die Gegenwart.

3. Nach Stalins Tod, während der Entstalinisierung und der Tauwetterperiode gab es Korrekturen am Bild v.a. der Februarrevolution, die jetzt wieder eine elementare Massenbewegung wurde, die nicht von den Bolschewiki kontrolliert wurde. 1957 wurde eine unionsweite Fachzeitschrift gegründet, Burdschalow setzte quellengestützte Studien durch. Die “Neue Richtung” der “1960er” betont die Besonderheiten der russischen Revolution gegenüber der marxistischen Theorie, die Komplexität der Wirtschaftsformen (z.T. noch Feudlaliamus, kein reiner Kapitalismus), keine Dominanz einer sozialen Klasse. Unter Breschnew (Sturz Chruschtschows 1964) wird diese bis 1967 dominante Richtung 1969-72 zerschlagen, im Zeichen der Niederschlagung des Prager Frühlings wird wieder Geschlossenheit durchgesetzt., die Revolutionsdeutung durch die KPdSU remonopolisiert (“Schluss mit der Fehlersuche bei Stalin”).

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“Ein gutes neues Jahr!” 1918/19
Sammlung Eybl, Plakatmuseum Wien, Wikipedia

4. Die “Ära des organisierten Massenkonsenses” (Formulierung von Viktor Zaslavsky) unter Breschnew schaltete selbst systemloyale Kritiker aus. Inhaltlich drehte sich die Entwicklung in der Revolutionsgeschichtsschreibung wieder zurück, die Revolutionen wurden reproletarisiert, die “historischen Gesetzmäßigkeiten” betont, die Oktoberrevolution die “klassische Leitrevolution” und die dreibändige “Geschichte des Oktober von Isaac Minc” wieder zum Standard mit der Meistererzählung vom Plan der Bolschewiki und dessen Durchführung.

5. Gorbatschows Antwort auf die Systemkrise und Gerontokratie in allen Bereichen ermöglichte ab Januar 1987 eine neue Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft erlitt allerdings einen Autoritätsverlust gegenüber den Medien (Roman, Film). 1988 wird die “Neue Richtung” rehabilitiert, 1989 Minc durch Volobuev, dem Kopf der “Neuen Richtung” ersetzt und ein Pluralismusbeschluss in der Akademie der Wissenschaft gefasst. Verfemte Akteure der Revolution und geschasste Historiker wurden rehabilitiert. Seit Anfang 1989 gab es auch grundsätzliche Kritik am Roten Oktober, daraus entstand dann eine Gleichsetzung Sozialismus = Stalinismus (v.a. Alexander Cipko: “Quellen des Stalinismus”, Artikel in der Zeitschrift Nauka i žizn' 1988/89), der Stalinismus sei die organische Weiterentwicklung der Oktoberrevolution.

6. Die Systemtransformation und die Verkleinerung des Staates nach der Auflösung der Sowjetion erschwerte die Arbeitsbedingungen für die Geschichtswissenschaft, angesichts der Unterfinanzierung fand eine Kommerzilailisierung des Wissenschaftsbetriebes statt. Trotz Liberalisierung und Pluralismus entstand eine neue Geschichtspolitik von oben, so wurde schon unter Jelzin der 7.11. vom “Tag der Oktoberrevolution” zum “Tag der Harmonie und Freundschaft” umbenannt, von Putin abgeschafft und stattdessen der 4.11. als “Tag der Volkseinheit” verordnet (Erinnerung an die Smuta, die Zeit der Wirren und deren Beendigung durch die Romanow-Dyn unter Michael I .1612, gleichzeitig eine Einigung gegen äußere Bedrohungen). In der Geschichtswissenschaft wurden neue Totalitarismustheorien aufgestellt, so habe es einen Proto-Totalitarismus unter den Tartaren, Ivan IV. usw. gegeben, der Oktober sei dem Volk aufoktroyiert worden. Andere Ansätze sehen die Revolution als Ergebnis der Modernisierungsverweigerung der Eliten, als Systemkrise des “Imperiums der Kontraste”.

Insgesamt lassen sich für die Revolutionsgeschichtsschreibung Phasen relativer Freiheit und Phasen von Druck unterscheiden, 38 schwierigen Jahren stünden immerhin 32 bessere gegenüber.

Prof. Dr. Michael Wagner (Gießen):
Die Februarrevolution und die russische Geschichte. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven

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Ausgehend vom alten Lehrplan Sek. II und der Erfahrungspraxis legte Prof. Wagner einleitend dar, dass das Epochenjahr 1917 bislang nur im Leistungskurs Thema war und im Landesabitur keine Rolle gespielt hat. Für das Abitur 2018 ist das Epochenjahr 1917  für den LK als Thema ausgewiesen. In der Unterrichtspraxis werde das Thema kaum oder wenig behandelt, oft im Lehrervortrag abgehandelt oder als Präsentationsthema ausgegeben, mit vielleicht mit ein bis zwei Quellen im Unterricht. Im Kerncurriculum Gymnasiale Oberstufe gibt es das Themenfeld Q2.5 Russische Revolution und Sowjetunion unter Stalin - das kommunistische Gegenmodell. [Siehe auch unserer Sonderseite zum KCGO].

Diese minimale Berücksichtigung steht natürlich im Kontrast zur Bedeutung der Oktoberrevolution und ihrer Folgen auch für die europäische und Weltgeschichte nach 1945. Grundsätzlich entstand eine politische Alternative zum Kapitalismus.

In der russischen Perspektive scheiterte die Reform von oben und die parlamentarische Lösung, an der die demokratischen Sozialisten beteiligt waren, Lenin und die bolschewistische Alternative setzten sich durch. Bei der Russischen Revolution handelte es sich somit um eine Totalrevolution.

In der internationalen Perspektive erzeugten der Krieg und die deutsche Ostexpansion eine innere Destabilisierung, deren revolutionäre Lösung umgekehrt die Weltrevolution auf die Tagesordnung brachte. 1917 spielte auch für das Aufkommen des Faschismus sowie für die Radikalisierung des Antisemitismus eine wesentliche Rolle. Militärisch hätte Österreich-Ungarn ohne die Ukraine schon vor 1918 aufgegeben und der Frieden von Brest-Litowsk, obwohl nur kurzfristig gültig, schuf die Vision eines Ost-Imperiums im Sinne der Lebensraumideologie.

In der Folge waren die III. Internationale und die KPD quasi der Legitimationsgegner für Hilter und die NSDAP, während die “Protokolle der Weisen von Zion”, die “jüdische Weltverschwörung” quasi eine Parallele zur kommunistischen Weltrevolution, die Gegner der Bolschewiken im Sinne einer Synthese Judentum-Bolschewismus beeinflussten.

Herr Wagner gab dann noch konkrete Anknüpfungspunkte für das Thema 1917 im Unterricht:

  • Parallele Russland Februar 1917  als “steckengebliebene Revolution” zur Novemberrevolution 1918 in Deutschland, die Oktoberrevolution als Vorbild für die deutsche Linke bis zur Festigung der Weimarer Republik sowie die KPD als bleibende revolutionäre Bewegung.
  • Sowjetunion und deutsche Revisionspolitik in den 1920er Jahren.
  • Sowjetunion als Objekt der NS-Ideologie
  • Sowjetunion als Gegenspieler und Partner des Dritten Reiches

 

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