Prof. Dr. Henning Melber (Uppsala/Pretoria): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika aus heutiger Sicht
Historische Sachlage
In Namibia ist die geschichtliche Erinnerung immer präsent, bei Alt und Jung, sie durchzieht auch Familien durch ihre verschiedenen Ahnen selbst in der schwarzen namibischen Bevölkerung.
Vor dem Holocaust fand in Deutsch-Südwestafrika der erste deutsche Völkermord statt. Dazu gibt es im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland einen Nachholbedarf, schon Namibia dürfte deutschen Schülern wenig bekannt sein. Die deutsche Kolonialherrschaft wurde schon durch einen Betrug des Kaufmanns Lüderitz an der einheimischen Bevölkerung begründet, aufgrund der klimatischen Verhältnisse war dies das einzige Gebiet, das sich für eine Besiedlung durch Deutsche wirklich eignete.
Die Nama („Hottentotten“) und Ovaherero* verloren Weideland an die Siedler. Vor der Jahrhundertwende wurde Maharero von den Deutschen in die Funktion eines „Oberhäuptlings“ gebracht, trotzdem kam es Im Januar 1904 zu einem Aufstand unter seiner Führung gegen die Deutschen. Es war ein Kampf um das Weideland und gegen die Verdrängung der Herero (deutscher Sprachgebrauch). Beim Aufstand wurden deutsche Farmer getötet, Frauen und Kinder sollten explizit verschont werden.
Dies wurde als Kriegserklärung aufgefasst. Die „Entscheidungsschlacht“ am Waterberg blieb ohne eindeutigen Erfolg. Die Herero flohen nach Osten in das Sandfeld (Omaheke-Wüste) mit dem Ziel, nach Britisch-Betschuanaland durchzukommen. Die Absperrung der Omaheke und ihrer Wasserstellen im Oktober 1904 durch das deutsche Militär erfüllt die Definition des Völkermordes.
Als Reaktion auf die Vernichtung der Herero erhoben sich die Nama unter Hendrik Witbooi, dem in dem Roman von Uwe Timm über Jakob Morenga ein eindrucksvolles literarisches Vermächtnis gesetzt wurde. Witbooi wandte eine Guerillataktik an, konnte den Konflikt damit in die Länge ziehen aber trotzdem keinen Erfolg erzielen.
Wichtig ist für die historische Wahrnehmung, dass die Afrikaner hier keine hilflosen Opfer waren, sondern handelnde Subjekte, Widerständler.
Die überlebenden Herero und Nama wurden durch die deutsche Mission zur Zwangsarbeit in Konzentrationslagern gezwungen, es kam zu Vergewaltigungen und Misshandlungen, abgesehen von den Inhaftierungsbedingungen, so dass einige Missionare darüber entsetzt waren. Die Sterblichkeitsziffer war extrem hoch (80%) aufgrund von Mangelernährung, Zwangsarbeit und klimatischen Bedingungen (extrem kalt auf der Haifischinsel), was auch den Widerspruch des Offiziers von Estorff hervorrief.
Die Kolonialideologie entmenschlichte die Opfer als „Barbaren“, „Affen“; die Apartheid war in Namibia bereits eine deutsche Erfindung (Missionar Heinrich Vetter im Senat Südafrikas )
Nach dem Ende der deutschen Kolonalzeit durch den Ersten Weltkrieg gab es eine umfangreichere Kolonialliteratur zu Deutsch-Südwest als zuvor: Peter Moors Fahrt nach Südwest wurde unter anderem als Literatur für Soldaten in Stalingrad ausgegeben. Hans Grimms Volk ohne Raum wurde als einziges Buch auf der Weltausstellung in Chicago 1933/34 als “deutsches Kulturgut” vorgestellt.
Erklärungen
Historische Erklärungen zu den deutschen Genoziden schwanken zwischen der Kontinuitätsthese und der vom nicht linearen Weg. Gewaltbereitschaft war bei anderen Kolonialmächten ebenso vorhanden, es handelte sich hier um keinen deutschen Sonderweg. Hannah Arendt zog iin ihrer Imperialismusstudie eine mentalitätsgeschichtliche Linie zum Holocaust.
Aus den deutschen Kolonien und namentlich aus Deutsch-Südwest kam „Negermaterial“ für anthropologische Forschungen nach Deutschland, das in den 1930er und 40er Jahren für die NS-”Rassenkunde” neue Verwendung fand. Hier zeigt sich auch eine biographische Kontinuität in der Person von Franz Ritter von Epp. Außerdem verwies er auf den NS-Rassenkundler Eugen Fischer und damit verbunden die Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen der Rassenforschung im deutschen Kolonialismus und im Nationalsozialismus durch Benno Müller-Hill.
Die Definition des Völkermordes und die UN-Konvention zum Völkermord 1947 wurden entscheidend von Raphael Lemkin geprägt und bezogen sich zunächst vor allem auf den Holocaust. Lemkin hat aber seine Untersuchungen beim deutschen Kolonialismus begonnen. Aus der Übertragung der Kategorie Völkermord auf andere Massenmorde entstand in der Völkermordforschung der Vorwurf der Relativierung des Holocaust. Aber jeder Völkermord ist singulär, Anerkennung ist keine Relativierung.
Historische Aufarbeitung
Es gab de facto keine Kolonialismuskritik in der frühen BRD, trotz oder wegen personeller Kontinuitäten in Geographie, Ethnologie, dagegen in der DDR eine Aufarbeitung Imperialismus in Verbindung mit einer, Kritik am Westen. Ende der 1960er Jahre gab es je 1 Dissertation Über historischen Sachverhalt: Horst Drechsler (Ost) stützte sich auf die Archivforschung, Helmut Bley (West) war von der Analyse Hannah Arendts inspririert.
Entscheidend ist für den Tatbestand des Völkermordes, dass eine Absicht der Vernichtung bestand. Auch der „Entzug der Reproduktionsgrundlage“ erfüllt den Tatbestand des Völkermordes.
1985, anlässlich des 100. Jahrestages der Berliner Afrikakonferenz, gab es immer noch = wenig Literatur über die Kolonialgeschichte. Zum Beispiel sollte man fragen: Für wen und durch wen wurden Straßen und Eisenbahnen gebaut? Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, vor allem in Großbritannien, gibt es eine Kontroverse über “gute” und “schlechte” Seiten des Kolonialismus.
Blogs und Antworten auf kolonialkritische Artikel im Web sind zu 80% rassistisch.
Die Bundesrepublik erkennt eine besondere deutsche Verantwortung für die ehemalige deutsche Kolonie Namibia an, dabei galt die bis vor 2 Jahren prioritär der deutschsprachigen Bevölkerung In Namibia, die pro Kopf die höchste entwicklungspolitische Zuwendung bei insgesamt nur 2,3 Mio Einwohnern erhielt.
Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland sind eigentlich auch gegenüber Südafrika gerechtfertigt, das nach dem 1. Weltkrieg quasi die koloniale Verwaltung Namibias fortsetzte. Vor 1990 gab es keine völkerrechtliche Einheit Namibia.
Die namibische Regierung wird seit der Unabhängigkeit durch die SWAPO gestellt, die überwiegend aus Vertretern der Ovambo besteht und kein Interesse an einer Sonderrolle der Herero hat.
2000 wurde ein erstes Gerichtsverfahren in New York, angestrengt von auch in den USA lebenden Nachkommen der Herero, gegen private Profiteure aus der Kolonialherrschaft abgelehnt: Die Herero seien kein völkerrechtliches Subjekt.
Hundert Jahre nach dem “Deutsch-Namibischen Krieg“ gab es 2004 150 Einzelaktionen von NGOs, Heidi Wieczorek-Zeul, damalige Entwicklungsministerin, nahm an der Gedenkfeier am Waterberg teil und äußerte eine Bitte um Entschuldigung im Sinne des Vaterunser. Außenminister Joschka Fischer betonte jedoch, dass dies keine entschädigungsrelevante Entschuldigung sei. Die Bild-Zeitung kommentierte: „Typisch Frau“ Sentimentalität könnte Milliarden kosten, zitierte Melber.
Die Diskussion wurde 2015 durch die Völkermord-Resolution zu den Armeniern im Bundestag neu entfacht. Präsident Erdogan verwies im Vergleich auf den ersten Völkermord im 20. Jh., nämlich an den Herero, und den deutschen Umgang damit. Seither ist auch der Völkermord an den Herero in allen Medien. Die UNO hat ihn schon vor 30 Jahren als Völkermord bezeichnet, seither gibt es Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen und Streit um die Frage, wie man sich entschuldigt.
Wichtig dabei ist auch, dass es hier nicht dieselbe Konstellation Sieger/Besiegte wie beim Holocaust gibt, wo die Täter später als Besiegte sich dafür verantworten mussten. Außerdem wäre die Anerkennung der Entschädigung ein Präzedenzfall für alle ehemaligen Kolonialmächte und ist daher nicht erwünscht. So gebe es auch Versuche, im Völkermordbegriff zurückzurudern. Dabei sei finanzielle Höhe einer Entschädigung eigentlich irrelevant, primär gehe es um die Anerkennung.
Die 2007 beschlossene UN-Konvention zum Recht indigener Völker legt fest, dass Verhandlungen nur unter Einbeziehung der Betroffenen stattfinden dürfen.
Heutige Situation in Namibia:
Der südliche Landesteil sei total marginalisiert, beklagte Melber, die Landfrage nach wie vor ungeklärt: ein Relikt des Kolonialismus. Nach der Machtübernmahme durch die SWAPO habe es enen Deal gegeben, wonach Weiße ihr Land und ihre Privilegien behalten durften.
Die erste Botschafterin Namibias in Deutschland war Nachfahrin einer vergewaltigten Herero. In diesem Zusammenhang verwies Melber auf das Buch von Martha Mamozai: Herrenmenschen, Frauen im deutschen Kolonialismus.
Es stelle sich dann die Frage, ob umgekehrt der deutsche Botschafter in Namibia nur für die deutschsprachige Bevölkerung “zuständig” sei?.
Empfehlung:
Nach existierenden Vorbildern zu anderen vergleichbaren historischen Themen wäre die Gründung einer deutsch-namibischen Schulbuchkommission sinnvoll.
Bücher von Henning Melber:
Henning Melber (Hg.): Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M. (Brandes & Apsel), 2005.
Reinhart Kößler / Henning Melber: Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbewältigung. Vorwort von Heidemarie Wieczorek-Zeul, Frankfurt/M. (Brandes & Apesel), 2017.
Henning Melber: Namibia. Gesellschaftspolitische Erkundungen seit der Unabhängigkeit, Frankfurt/M. (Brandes & Apsel), 2015, 2. erweiterte Aufl. 2017.
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