Quelle
1. Die Emser Depesche
Bismarck über die Strategie der Emser Depesche 1870 in seinen Erinnerungen 1898
[Voraus geht ein Rückblick auf die preußisch-deutsche Geschichte 1813-15:].
Ich erinnerte mich, dass schon in dem kurzen Zeitraume von 1813 bis 1815, von Leipzig und Hanau bis Belle Alliance, der gemeinsame und siegreiche Kampf gegen Frankreich die Beseitigung des Gegensatzes ermöglicht hatte zwischen einer hingebenden Rheinbundspolitik und dem nationaldeutschen Aufschwung der Zeit von dem Wiener Kongresse bis zu der Mainzer Untersuchungskommission [1][...]. Das gemeinsam vergossene Blut von dem Übergange der Sachsen bei Leipzig bis zu der Verteidigung unter englischem Kommando bei Belle Alliance hatte ein Bewußtsein gekittet, vor dem die Rheinbundserinnerungen erloschen. Die Entwicklung der Geschichte in dieser Richtung wurde unterbrochen durch die Besorgnis, welche die Übereilgung des nationalen Dranges für den Bestand staatlicher Einrichtungen erweckte.
Dieser Rückblick bestärkte mich in meiner Überzeugung, und die politischen Erwägungen in Betreff der süddeutschen Staaten fanden mutatis mutandis auch auf unsre Beziehungen zu der Bevölkerung von Hannover, Hessen, Schleswig-Holstein Anwendung. Dass diese Auffassung richtig war, beweist die Genugtuung, mit der heut, nach zwanzig Jahren, nicht nur die Holsteiner, sondern auch die Hanseaten der 1870er Heldentaten ihrer Söhne gedenken. Alle diese Erwägungen, bewusst und unbewusst, verstärkten in mir die Empfindung, dass der Krieg nur auf Kosten unsrer preußischen Ehre und des nationalen Vertrauens auf dieselbe vermieden werden könne.
In dieser Überzeugung machte ich von der mir durch Abeken [2] übermittelten königlichen Ermächtigung Gebrauch, den Inhalt des Telegramms zu veröffentlichen, und reduzierte in Gegenwart meiner beiden Tischgäste das Telegramm durch Streichungen, ohne ein Wort hinzuzusetzen oder zu ändern, auf die nachstehende Fassung:
»Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der kaiserlich französischen Regierung von der königlich spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Se. Majestät den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, dass er nach Paris telegraphiere, dass Se. Majestät der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. Se. Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, dass Se. Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.«
Der Unterschied in der Wirkung des gekürzten Textes der Emser Depesche im Vergleich mit der, welche das Original hervorgerufen hätte, war kein Ergebnis stärkrer Worte, sondern der Form, welche diese Kundgebung als eine abschließende erscheinen ließ, während die Redaktion Abekens nur als ein Bruchstück einer schwebenden und in Berlin fortzusetzenden Verhandlung erschienen sein würde.
Nachdem ich meinen beiden Gästen die konzentrierte Redaktion vorgelesen hatte, bemerkte Moltke [3]:
»So hat das einen ändern Klang, vorher klang es wie Schamade [4], jetzt wie eine Fanfare in Antwort auf eine Herausforderung.«
Ich erläuterte:
»Wenn ich diesen Text, welcher keine Änderungen und keinen Zusatz des Telegramms enthält, in Ausführung des Allerhöchsten Auftrags sofort nicht nur an die Zeitungen, sondern auch telegraphisch an alle unsre Gesandtschaften mitteile, so wird er vor Mitternacht in Paris bekannt sein und dort nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der Art der Verbreitung den Eindruck des roten Tuches auf den gallischen Stier machen. Schlagen müssen wir, wenn wir nicht die Rolle des Geschlagnen ohne Kampf auf uns nehmen wollen. Der Erfolg hängt aber doch wesentlich von den Eindrücken bei uns und ändern ab, die der Ursprung des Kriegs hervorruft; es ist wichtig, dass wir die Angegriffnen seien, und die gallische Überhebung und Reizbarkeit wird uns dazu machen, wenn wir mit europäischer Öffentlichkeit, soweit es uns ohne das Sprachrohr des Reichstags möglich ist, verkünden, dass wir den öffentlichen Drohungen Frankreichs furchtlos entgegentreten.«
Diese meine Auseinandersetzung erzeugte bei den beiden Generälen einen Umschlag zu freudiger Stimmung, dessen Lebhaftigkeit mich überraschte. Sie hatten plötzlich die Lust zu essen und zu trinken wiedergefunden und sprachen in heiterer Laune. Roon [5] sagte: »Der alte Gott lebt noch und wird uns nicht in Schande verkommen lassen.« Moltke trat so weit aus seiner gleichmütigen Passivität heraus, dass er sich, mit freudigem Blick gegen die Zimmerdecke und mit Verzicht auf seine sonstige Gemessenheit in Worten, mit der Hand vor die Brust schlug und sagte:
»Wenn ich das noch erlebe, in solchem Kriege unsre Heere zu führen, so mag gleich nachher ’die alte Carcasse’ [6] der Teufel holen.«
Er war damals hinfälliger als später und hatte Zweifel, ob er die Strapazen des Feldzuges überleben werde. [...]
Gedanken und Erinnerungen von Otto Fürst von Bismarck. New York und Stuttgart (Cotta) 1898, S. 439-441.
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