Einleitung durch den Vorsitzenden Dr. Wolfgang Geiger
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir freuen uns sehr, dass wir unter diesen zwar nicht leichten, aber überhaupt möglich gewordenen Bedingungen wieder eine Präsenzveranstaltung in Marburg abhalten dürfen und danken Professor Conze recht herzlich dafür , dies auch organisatorisch wieder möglich zu machen. Die letzte Veranstaltung fand hier im Februar letzten Jahres statt, damals kurz vor dem Lockdown, und ich habe das untrügliche Gefühl, dass wir uns auch heute noch einmal kurz vor Torschluss treffen.
Historische Erinnerung war immer schon politisch, es gab immer schon Kontroversen, aber dies hat wohl in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch in ihrer Grundstimmung an Schärfe und Kontroversität zugenommen. Vor sieben Jahren war es der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, heute steht das Kaiserreich in multifokalem Licht, auch durch die ins Bewusstsein zurückgerufene Kolonialgeschichte.
Erinnern wir uns auch an die Wandlung des Bismarck-Bildes im Laufe der Zeiten, in dem dann trotz aller Kritik einige positive Aspekte zu würdigen waren, so die Sozialversicherung und seine Saturiertheit in Sachen Außenpolitik. Im Ausland und vor allem in Frankreich wird das wohl noch anders gesehen. Wenn ich z.B. nur aus einem populären französischen Internetportal zitieren darf, hat Bismarck den Krieg gegen Frankreich „ausgelöst“ (declanché) – und das ist hier im Sinne von Schuld gemeint.
So freue ich mich auch besonders, nicht nur Professor Conze, sondern auch Frau Professor Krüger als Referentin hier begrüßen zu dürfen. Sie spricht heute zu uns im zweiten Vortrag über Das deutsche Kaiserreich in vergleichender und transnationaler Perspektive.
Den ersten Vortrag wird Herr Conze halten über Autoritarismus und Nationalismus im Deutschen Kaiserreich - Jenseits des Sonderwegs. Er ist zur Zeit einer der großen Protagonisten in der Debatte um Licht und Schatten des Kaiserreichs.
Prof. Dr. Eckart Conze Jenseits des Sonderwegs. Autoritarismus und Nationalismus im Deutschen Kaiserreich
Im Zuge einer “Renationalisierung” politischen Denkens, und zwar international, gebe es seit einiger Zeit auch eine “Renationalisierung” im historschen Rückblick und speziell auch einen neuen Blick auf das Kaiserreich, leitete Professor Conze seinen Vortrag ein.
Erinnerungskulturell hat der Rückblick auf das Kaiserreich selbst schon eine Geschichte durchlaufen. Nach 1945 war das Kaiserreich „historisch nicht abgeschlossen“, Historiker wollten Nation und Nationalstaat vor dem Nationalsozialismus retten und zeichneten ein eher positives Bild, anders die wissenschaftlichen Stimmen aus der Emigration.
Eine neue Phase begann mit Fritz Fischers Darlegung und Kritik der Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg - “Griff nach der Weltmacht”, 1961 -, die den Beginn der These vom Sonderweg und der Kontinuität von 1871 nach 1933 darstellte. Auch wenn man die Sonderwegsthese ablehnt wegen der damit verbundenen Verklärung des vermeintlichen westlichen Normalweges lieferte sie wertvolle Forschungen und Fragestellungen zum Kontinuitätsproblem in vielen Einzelaspekten. Der Blick auf Weimar und den Ersten Weltkreg reicht zur Erklärung des NS nicht aus, weil die Wahrnehmungskonzepte älter sind, mit denen Krieg und Niederlage erfasst wurden.
Schon für 1871 ist der Versuch Bismarcks und Wilhelms I. in Erinnerung zu rufen, jeden Eindruck eines „Parlamentskaisertums“ zu vermeiden. Es gab einen nur protokollarischen Empfang der Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages in Versailles. Bei der Reichstagseröffnung 1871 gab es eine Dominanz des Militärs, die Abgeordneten mussten ins Schloss kommen, der Kaiser erschien im Gefolge der Militärs, der Thron Heinrichs III. wurde aus Goslar herbeigeholt!
Die Symbolik der Ereignisse verweist auf den bellizistisch-autoritären Charakter des kaiserzeitlichen Obrigkeitsstaates („Machtstaat vor der Demokratie“, T. Nipperdey). Es war keine parlamentarische Monarchie. Die Art der Reichsgründung begrenzte die politischen und kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten des Reiches. Bismarcks Verfassungsvorschlag wurde im Frühjahr 1871 nur 3 Tage im Reichstag (!) diskutiert und dann zum Gesetz erklärt.
V.a. Zentrumsabgeordnete forderten einen kleinen Grundrechtskatalog, was aber keine Mehrheit fand. Die Nation wurde nicht als freiwilliger Zusammenschluss freier Bürger, sondern als Unterbau fürstlicher Machtausübung verstanden („Ewiger Bund“ der Fürsten mit den drei Hansestädten).
Der Bundesrat als exekutiv-legislative Mischinstanz war das eigentliche Machtgremium und wurde von Preußen dominiert. Der Reichstag als „Reichsaffenhaus“ (Wilhelm II.) wurde erst 1894 fertiggestellt; dagegen die Siegessäule mit der Inschrift „Das dankbare Vaterland dem siegreichen Heere“ bereits 1873 errichtet.
Vor dem Hintergrund der rasanten politischen und v.a. wirtschaftlichen Entwicklung war der Reichstag dennoch ein „fleißiges Parlament“ das zunehmend mehr Gesetze verabschiedete; dagegen schwand der Anteil der parlamentarischen Gesetzesinitiativen. Der Reichstag wurde zum Erfüllungsgehilfen der Ministerialbürokratie, die zumeist eine preußische war, weil es Reichsinstitutionen kaum gab. Eine Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber dem Reichstag war weitgehend unbekannt und förderte eine Gesinnungsethik der Abgeordenten statt einer Verantwortungsethik (Max Weber in Auseinandersetzung mit der Reichsverfassung).
Das Wahlrecht war zwar allgemein und gleich (im Gegensatz zum preußischen Dreiklassenwahlrecht), aber von Bismarck geplant als Verzögerungsinstrument, weil er mit dynastietreuer und sozial konservativer Wählerschaft auf dem Land rechnete. Dagegen kam es zum Anwachsen der Sozialdemokratie und oft zur Selbstblockade vieler Reichstagsdebatten, was wiederum zu einer faktischen Entwertung der Parlamente führte.
Die Massengesellschaft suchte sich daher andere Organisationsformen um sich auszudrücken und förderte so das Entstehen rechter Massenorganisationen. Verschärfend kam die Idee der homogenen Volksgemeinschaft auf, die nach fragwürdigen Kriterien ein „eigentliches Volk“ innerhalb der als zerstritten wahrgenommenen Nation definierte. Komplexe moderne Probleme wurden damit auf den einfachen Grundgegensatz reduziert: das „eigentliche Volk“ gegen die Volksfremden/Volksfeinde.
„Das Kaiserreich lag nicht nur chronologisch in zwei Jahrhunderten, es lag auch im übertragenen Sinn zwischen den Zeiten.“ (Conze)
Auf der anderen Seite zeigte der Wahlerfolg der SPD 1912, dass sich ein zunehmend sozialdemokratisches Bewusstsein dem Untertanengeist entgegenstellte.
Beide Tendenzen waren Ausdruck einer tiefgreifenden technisch-kulturellen Umwälzung, die in den Jahrzehnten von 1918 alle Lebensbereich erfasste., vor allem in den Städten. und Entfremdungserfahrungen mit sich brachte.
Außenpolitisch darf der Gegensatz zwischen Bismarck (saturiertes Reich) und Wilhelm II. (Platz an der Sonne) nicht überbewertet werden. Vielmehr waren die entscheidenden Weichen vor 1890 gestellt: Kaiserproklamation in Versailles, Annexion Elsaß-Lothringens, komplex-fragile (Geheim)Bündnisse, eigene Reichsgründung mit militärischen Mitteln. Bismarcks Bündnissystem war kein „System kollektiver Sicherheit“ mit einem hohen Maß an allgemeiner Wertebindung und Transparenz, sondern bestand aus bilateralen Maßnahmen aus aktuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten heraus („System von Aushilfen“, L. Gall)
Auch die Anfänge des Imperialismus liegen bereits in der Bismarckzeit: Der Löwenanteil des deutschen Kolonialreiches wurde vor 1890 erworben und dies bereits mittels brutaler kolonialer Gewalt, z.B. in Ostafrika. Nach 1945 wurde die relativ kurze deutsche Kolonialgeschichte positiv bewertet, weil nun die Verwerfungen der Dekolonisation anderswo stattfinden. Aber: in den vergangenen Jahren wächst das Bewusstsein dafür, dass Deutschland mit seinen ehemaligen Kolonien koloniale und postkoloniale Erfahrungen teilt und sich diesem Verhältnis (auch materiell) stellen muss.
Prof. Dr. Christine G. Krüger Das deutsche Kaiserreich in vergleichender und transnationaler Perspektive
Frau Prof. Krüger sprach zunächst auch die Sonderwegsthese an, wonach im Kaiserreich die politische Kultur preußisch-ostelbisch, aristdokratisch geprägt gewesen sei und Bismarck als Quasi-Diktator gesehen wurde. Es gab ein “Bürgertum ohne Bürgerlichkeit“, das oft freiwillig auf Mitwirkung verzichtete und eine Anpassung an den Adel anstrebte („Feudalisierung des Bürgertums“). Die erkläre die Schwäche des politischen Liberalismus und kennzeichnet das Kaiserreich als wesentliche Wegmarke zum Ersten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus.
Konservative Kritik daran gab es in den 1870er und 80er Jarhen durch von Hillgruber, Hildebrand, Stürmer, die aus der Mittellage Deutschlands eine Militarisierung als (außen)politisch nötig ansahen. Bismarcks Politik war dementsprechend angemessen und positiv und es gab keine automatische Kontinuität 1871 bis 1933.
Linke Kritik daran gab es in den 1980ern angeführt von Eley, Blackbourn, die die Idealisierung des Bürgertums und des kapitalistischen Westens kritisierten, aber die liberale Politik des Kaiserreichs betonten und die damit verbundene Ambivalenz des Bürgertums zwischen Bürgerlichkeit und Feudalisierung, die auch die illiberalen Bewegungen des Kaiserreichs dominiert habe.
Die vergleichende Perspektive ist hinsichtlich der Sonderwegsthese durchaus bereichernd, betonte Frau Krüger. Sie legte dies an zwei Beispielen dar: Antisemitismus und Frauenbewegung.
Antisemitismus:
Die ältere Forschung zum „deutschen Weg der Judenemanzipation“ passt zur Sonderwegsthese: verspätet, eher kulturell als rechtlich etc., jeweils gemessen an der Entwicklung in Frankreich, höhere Beamtenstellen blieben z.B. Juden verwehrt.
Die neuere Forschung hat einen differenzierteren Blick auf die französische Entwicklung geworfen und betont, dass dort die Emanzipation durchaus prekär blieb, es gab einen gesellschaftlichen Antisemitismus. Umgekehrt zeigt sich ein Gefälle zwischen Deutschland und den Entwicklungen in Osteuropa (Pogrome).
Frauenbewegung:
Hier wurde viel Kritik an der Schwäche der bürgerlichen Frauenbewegung geübt, v.a. von Seiten der Geschlechterforschung der 1970er Jahr, wegen mangelnder Radikalität im Vergleich mit der britischen Suffragetenbewegung.
Die neuere Forschung betont dagegen die eine relative Stärke der deutschen Frauenbewegung hinsichtlich ihrer Mitgliederzah, währen die Radikalität der britischen Suffrageten auch abschreckend wirkte und wohl eher kontraproduktiv auf die mittlere und längere Sicht war.
Die vergleichende Geschichtswissenschaft hat jedoch auch ihre Grenzen, weswegen sich seit den 1990er Jahren eine Forschung zur Transfergeschichte entwickelt. Hauptkritikpunkt: Vergleichen setzt Unterschiede voraus und bestätigt diese durch den Vergleich. Sind die Vergleichsgegenstände heterogen, werden die innere Gegensätze zu stark vereinheitlicht. außerdem wird der historische Wandel oft vernachlässigt und Wechselwirkungen sind im Vergleich nur schwer erfassbar oder zumindest störend.
Die Kritik an der Transfergeschichte bezieht sich hauptsächlich auf die Überbetonung friedlicher Austauschprozesse, nur im Vergleich können auch Transfers nachgewiesen werden.
So bleiben nach Ansicht von Frau Krüger national vergleichende Analysen weiterhin gerechtfertigt, denn Verfassung und Rechtsystem und deren medialer Niederschlag sind national organisiert, es gibt auch eine nationalstaatliche Rahmung vieler Organisationen der Zivilgesellschaft, der Kommuikationsraum nationalsprachlich determiniert und es gibt eine Identifikation oder affektive Ablehnung des eigenen Nationalstaates, also jedenfalls einen Bezug dazu.
Trotzdem sei die deutsch-französische Beziehungsgeschichte nach Mareike König “nicht so grundsätzlich konfliktuell” gewesen, wie meist angenommen wird.
Frau Krüger brachte dann noch ein anderes Vergleichsbeispiel:aus einer laufenden Forschung zur Sprache: Die Hafenarbeiterstreiks in London 1889 und in 1896:
In beiden Fällen Stießen die Streiks auf gespaltene Reaktionen, zwei Lager: eine harte (nationalliberale) Konfrontationshaltung und eine ausgleichende Haltung der Sozialreformer (eher linke Liberale). Die Streiks lassen sich als Ausdruck sich verschärfender gesamtgesellschaftlicher Klassengegensätze interpretieren. Allerdings sind die Größenunterschiede ´beträchtlich: London 100.000; Hamburg 16.000.
In London war das Lager der Sozialreformer stark, die einerseits gut in die Politik vernetzt waren, Spenden isammelten, konkret die Streikenden unterstützten und Kompromissvorschläge vorlegten.
Dagegen gab es In Hamburg den Versuch politisch-wissenschaftlicher Einflussnahme durch Ferdinand Tönnies, der jedoch massiv medial angefeindet wurde und folgenlos blieb.
Fazit der vergleichen historischen Forschung: Es gibt viele neuere vergleichende und transnationale Arbeiten, v.a. deutsch-französische und deutsch-britische Vergleiche (Spezifikum der deutschen Forschung). Es gibt somit eine weitere Differenzierung der Forschung, aber auch Defizite bei der Gewichtung der Ergebnisse und bei der Fokussierung auf Kontinuitäten und Kausalitäten.
Diskussion
Die Diskussion über die Vorträge von Prof. Conze und Prof. Krüger kreisten zum einen um die Frage, welche Erträge die vergleichende und transnationale Perspektive auf das Kaiserreich liefere, zum anderen um die Frage, welche Aufgabe die Forschung im Hinblick auf einen kritischen Blick auf die Gegenwart habe.
Am Beispiel des Buchs von Christopher Clark „Die Schlafwandler“ machten Conze und Krüger deutlich, dass seine vergleichende Beschreibung des Kriegsbeginns 1914 und der detaillierten Darstellung der diplomatischen Aktivitäten der europäischen Mächte die Analyse der innenpolitischen Situation in Deutschland vernachlässigt und dadurch auch die Erklärung der Entscheidungen des Deutschen Reiches. Auch verweigern sich vergleichend-beschreibend angelegte Untersuchungen wie diese der Frage nach dem „warum“ historischer Prozesse. Andererseits diene eine vergleichende und transnationale Perspektive dazu bei, die spezifischen Entwicklungen im jeweiligen Land deutlicher zu konturieren. Dieser Vorzug einer vergleichend-transnationalen Perspektive wurde am Thema „Antisemitismus“ verdeutlicht. Ergebnis der Diskussion war, dass es in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts eine wesentlich stärkere Gegenbewegung gegen den wachsenden Antisemitismus gab als im Deutschen Reich, dass aber andererseits Antisemitismus in Europa ein Element des Nationalismus war. Auch eugenische Tendenzen als Begründung für die Exklusion von Schwachen und Gehandikapten fanden sich in allen europäischen Staaten; hier gilt es zu erforschen, ob es deutsche Besonderheiten gab, die evtl. auch die Verbrechen im Nationalsozialismus erklären helfen.
Eine weitere Frage drehte sich um die Funktion der Geschichtswissenschaft für die Gegenwart. Herr Conze und Frau Krüger waren sich einig, dass Geschichtswissenschaft auch aufklärende Funktion im Hinblick auf die politischen Strukturen und Prozesse der Gegenwart haben müsse, und lehnten den Rückzug auf eine rein beschreibende statt einer erklärenden Geschichtswissenschaft ab. In Gefühlen von Entfremdung und Orientierungslosigkeiten sahen sie durchaus gewisse Parallelen zwischen den Menschen im Kaiserreich und im heutigen Deutschland.
Auf der Grundlage dieser Schwerpunkte – der Frage nach dem Ertrag einer vergleichenden transeuropäischen Geschichtswissenschaft und der Diskussion um Erklärungs- und Aufklärungspotential historischer Forschung – erfolgte also ein wichtiger, anregender und weiterführender Austausch als Abschluss dieser gelungenen Tagung.
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