Ein Rückblick auf die Vorkommnisse in Hessen (Volksstaat Hessen) 1931 und danach, mit ihrer Bedeutung für ganz Deutschland, mag heute die geforderte Erinnerung an die Weimarer Republik konkretisieren und helfen, im Vergleich Parallelen und Unterschiede zu erkennen.
Situation nach der Landtagswahl 1931
Nach der Landtagswahl am 16.11.1931 entstand im Volksstaat Hessen eine Situation der Unregierbarkeit, da NSDAP (37,1 %) und KPD (13,6 %, +5) zusammen über 50% der Stimmen und Sitze bekommen hatten. 1927 war die NSDAP in der Phase ihrer Reorganisierung nach Aufhebung des Parteiverbots 1925 (cf. LAGIS) noch nicht unter diesem Namen angetreten bzw. hatte keine Zulassung bekommen. Auf die SPD entfielen 1931 21,4% (-11,2), Zentrum 14,3% (-3,4), mehrere Parteien erreichten nur Prozentzahlen unter 3% und waren nur mit einem Abgeordneten vertreten, darunter die DVP mit 2,3% (-8,4) und die DDP mit 1,4% (-6,4). Nach anderthalb Jahren Präsidial- kabinetten im Reich und etwas mehr als einem Jahr nach der Septemberwahl 1930, als die NSDAP 18,3% in der Reichstagswahl erhielt, hatten die demokratischen Parteien erdrutschartig an Zustimmung verloren, wenn auch weniger an abgegebenen Stimmen als im relativen Anteil.
Die NSDAP zog Stimmen anderer Rechtsparteien auf sich, so v.a. vom Hessischen Bauernbund (von 12,7 auf 2,6%), der in der Tradition des 1923 verstorbenen Antisemiten Otto Böckel und seiner Bauernbewegung stand, sie profitierte aber auch stark von der Mobilisierung der Nicht-Wähler von 1927 (Wahlbeteiligung 1927: 54,7% / 1931: 82,3%) und zog damit überhaupt erstmalig in den Landtag ein (siehe oben). Nach dem Erfolg der Partei auf Reichsebene 1930 mit 18,3% sprang sie hier jedoch gleich auf mehr als das Doppelte. Obwohl die SPD fast 11000 Stimmen dazu gewann, verlor sie durch die höhere Wahlbeteiligung 11,2% in der Relation und 9 von 24 Mandaten, während die KPD ihre Stimmenzahl von 8,6% auf 13,6% steigern konnte.
Damit hatte die seit 1919 SPD-geführte Koalition mit Zentrum und DDP ihre Mehrheit verloren und so gab es zwischen den Extremen KPD und NSDAP überhaupt keine mögliche Mehrheitsbildung mehr.
Die Hessenwahl stieß reichsweit auf großes Interesse und wurde in der Öffentlichkeit als Test für die politische Stimmung im Lande verstanden (cf. Herbert, Best, S. 123f.) - und das war sie auch.
Näherungsversuche zwischen NSDAP und Zentrum
Der Fraktionsvorsitzende der NSDAP und spätere hohe SS-Obergruppenführer und Stellvertreter Heydrichs, Werner Best, gebürtiger Darmstädter, damals Gerichtsassessor (angehender Richter) in Gernsheim bei Darmstadt, führte daraufhin diskrete Verhandlungen mit der Zentrumspartei für eine Regierungsbildung. Sein Verhandlungspartner vom Zentrum war der Landesvorsitzende und Reichstagsabgeordnete Fritz Bockius, in dessen Mainzer Anwaltskanzlei Best 1925-28 als Referendar tätig gewesen war.
Bereits vier Tage nach der Wahl vom 19.11.1931 holte sich Bockius in Berlin das Placet von Reichskanzler Heinrich Brüning - oder wurde er von diesem gedrängt? - für die Verhandlungen mit Best [cf. Augustin u.a., Bockius, S. 45f. / Braun, Bockius, S. 13]. Brüning versprach sich durch das hessische Experiment die politische Einbindung der Nazis und dies sollte mit einem entsprechenden Effekt auf Reichsebene Hitler dazu bewegen, zumindest bei der anstehenden Reichspräsidentenwahl am 13.3.1932 nicht gegen Hindenburg anzutreten, sondern diesen zu unterstützen. ”Von einer Regierungsbeteiligung der NSDAP - zuerst in Hessen, später auch im Reich - versprach sich Brüning eine Zähmung dieser Partei.” [Winkler, Weimar, S. 434, vgl. Augustin u.a., Bockius, S. 44-50]. Nicht unwesentlich erscheint in diesem Kontext, dass Brüning schon im Wahlkampf für die Landtagswahl, die reichsweit auf großes Interesse stieß, bei einer “Rede in Mainz die Nationalsozialisten milde, ja nachgerade freundlich behandelte.” (Herbert, Best, S. 124).
Die “Boxheimer Dokumente”
Am 25.11.1931 bereits übergab jedoch Wilhelm Schäfer, NSDAP-Kreisleiter von Offenbach und seit der Wahl vom 15.11. Landtagsabgeordneter, dem Frankfurter Polizeipräsidenten die “Boxheimer Dokumente”. Es handelte sich um ein Strategiepapier der hessischen NSDAP für die Macht- übernahme in Hessen, die Best, Schäfer und andere Parteifunktionäre auf dem Boxheimer Hof im Sommer 1931 ausgearbeitet hatten. Dies war eine Staatsweindomäne bei Lampertheim, die der Pächter Richard Wagner, seit 1930 NSDAP-Mitglied, bewirtschaftete. Wie die anderen war er auch seit dem 15.11. Landtagsabgeordneter.
Vor dem 25.11. war zwischen Best und Schäfer ein Konflikt ausgebrochen, da Schäfer sich offenbar ein falsches Doktordiplom verschafft und auch ansonsten seinen Lebenslauf geschönt hatte. Best - oder aber Gauleiter Karl Lenz? - ließ Schäfers Wohnung von der SA durchsuchen und drängte Schäfer zum Rücktritt von seinem Landtagsmandat. Entweder Lenz schloss ihn aus der Partei aus (cf. Wikipedia “Lenz”) oder Schäfer brach von selbst mit der Partei, jedenfalls rächte er sich dafür durch die Übergabe der Boxheimer Dokumente an die Polizei.
Werner Best hatte das Geheimpapier im Wesentlichen ausgearbeitet und mit der hessischen Parteiführung in Boxheim besprochen. Ausgangspunkt war ein angenommener kommunistischer Putschversuch, ein Szenario, das quasi die Situation durch den Reichstagsbrand 1933 vorwegnahm. Für den Fall einer “verwaisten Staatsgewalt” wurde die Wiederherstellung der Ordnung durch die “SA., Landwehren o.ä.” (Zutreffendes war zu präzisieren) verkündet, zu deren Befehlshaber sich Best selbst erklärte. Die “Landwehren” stellten Standgerichte auf, die Widerstand mit dem Tode bestrafen konnten, und die öffentlichen Verwaltungen mussten sich ihnen unterstellen. Die Originalschrift des Dokuments ist nicht erhalten, aber Abschriften (siehe bei DFG-VK Darmstadt).
Im September hatte Best sein Strategiepapier der NSDAP-Reichsleitung in München übermittelt, stieß dort aber auf eine ablehnende Haltung. Schon formal hatte sich Best eine Führungsposition in Hessen angemaßt, die dem Führerprinzip von oben nach unten widersprach, denn er war zwar “Leiter der Rechtsabteilung” der hessischen NSDAP, aber nicht zum Gauleiter berufen worden. Gegenüber dem aus dem Badischen nach Hessen-Darmstadt herübergeholten Gauleiter Karl Lenz machte sich Best als intellektueller Kopf, einer der wenigen Akademiker in der Partei, sowie mit politischer Erfahrung aus Rheinhessen vor Ort gleichwohl einen Namen. (vgl. Herbert, S. 120), doch mit seinem Strategiepapier maßte er sich auch gegenüber der Reichsleitung der Partei Kompetenzen an, die ihm nicht zustanden. Hinzu kam, dass Bests Vorstoß mit einer innerparteilichen Opposition gegen die Legalitätstaktik zusammenfiel, die vor allem von der SA gestützt wurde und bis in die Parteiführung zum stellvertretenden Reichspropagandaleiter Heinz Franke reichte (cf. Herbert, S. 12).
NSDAP, “Terror von rechts” und “Boxheimer Dokumente” als Thema auf Reichsebene
Offenbar wurde eine Zusammenfassung des Inhalts der Boxheimer Dokumente auch der Presse zugespielt, die dies am Tag darauf, dem 26.11., mit großer Aufmachung herausbrachte.
Zuvor schon, am 17.11., hatte die Führung der SPD aus Reichstagsfraktion und preußischer Regierung (Wels, Breitscheid, Hilferding, Hertz, Severing), bei Brüning und Groener (Reichs- innenminister) vor dem “Terror von rechts” gewarnt. Groener hatte jedoch auch von Hitler Unterlagen über Gewalttaten gegen Nationalsozialisten erhalten und so ging es am selben Tag auf einer Konferenz der Innenminister nicht um die NSDAP, sondern um ein KPD-Verbot, für das sich jedoch außer Bayern kein Land einsetzte (cf. Winkler, Weg in die Katastrophe, S. 446f.).
Und bereits im Dezember 1929, also noch während der Großen Koalition, hatte der damalige Reichsinnenminister Severing dem Reichstag eine Denkschrift vorgelegt, die mit den Worten begann:
“Seit der Nichterneuerung des Republikschutzgesetzes vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in Deutschland, zumeist an mehreren Stellen, auf politisch Andersdenkende geschossen, eingeschlagen oder eingestochen wird. [...] Die Ursache dieser betrübenden Erscheinung ist die hemmungslose Verhetzung durch Wort und Schrift, die von den Gegnern der Republik auf der äußersten Linken und auf der äußersten Rechten getrieben wird ” (Denkschrift; Vierteljahrsefte, S. 281).
Auch wenn der Sozialdemokrat hier den Extremismus von links und rechts außen gleichermaßen verurteilte, so war der Anlass dafür vor allem in der Kampagne gegen den Young-Plan zu sehen (cf. Jasper, Gescheiterte Zähmung, S. 65), zumal es dabei auch zu antisemitischen Aktionen kam. Das politische Problem lag nicht nur darin, dass sich im Juni keine 2/3-Mehrheit zur Veränderung des Republikschutzes im Reichstag gefunden hatte, sondern dass sich nach der Wahl in Thüringen am 8.12.1929 eine gegen die SPD gerichtete Mehrheit sämtlicher Rechtsparteien im Landtag fand, die am 23.1.1930 zur Bildung der Regierung Baum (Landvolk) mit Innenminister Frick (NSDAP) und weiteren Parteien einschließlich der DVP führte. Frick stellte daraufhin zahlreiche Parteigenossen in Polizei und Verwaltung ein, während reichsweit die Unvereinbarkeit zwischen der Mitgliedschaft in der KPD und dem Beamtentum aufrechterhalten wurde.
Im September 1930, im ersten Präsidialkabinett Brüning, aber noch vor der Reichstagswahl vom September, schrieb der Nachfolger Severings, der linkskatholische Zentrumspolitiker und ehemaliger Kanzer Wirth wiederum in einer Denkschrift:
Die NSDAP erstrebt mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln den gewaltsamen Umsturz [...`]. Die Partei selbst und die von ihr geschaffenen Organisationen sind so aufgebaut, daß sie alle als geschlossene militärisch disziplinierte Kampftruppen bei dem beabsichtigen Umsturz eingesetzt werden können. [...] Ihre gegenwärtige Tätigkeit besteht darin, sich selbst eine Machtstellung innerhalb des Staates zu sichern, durch bewußt staatsfeindliche Politik, durch Zersetzung der Machtmittel des Staates und durch weitere Schulung ihrer eigenen Machtmittel die Vorbedingungen für den sicheren Erfolg, der von der Partei in naher Zukunft zu entfachenden Revolution zu schaffen.” (zit, in Jasper, Zähmung, S. 67f.).
Doch im Oktober, nach der Reichstagswahl, schlug Brüning eine andere Richtung ein und “warnte davor, die Nationalsozialisten für den Staat als ebenso gefährlich zu betrachten als die Kommunisten.” (zit. nach Jasper, S. 69).
Nach der Veröffentlichung der Boxheimer Dokumente wurde auch vom Reichsjustizminister Curt Joël, obwohl einer jüdischen Familie entstammend, die Gefahr der NSDAP heruntergespielt. Er bescheinigte der Reichskanzlei, es handele sich dabei um keinen justiziablen Fall von Hochverrat, da keine Absicht auf gewaltsamen Sturz der Verfassung erkennbar sei (cf. Winkler, Weg..., S. 448). Die Tatsache, dass Best und seine Parteiführung eine Machtübernahme mit Hilfe von SA und “Land- wehren” für den Tag X vorbereiteten, war offenbar kein ausreichender Grund dafür, “weil es sich bei den geplanten Aktionen lediglich um Gegenmaßnahmen zur Abwehr eines kommunistischen Staatsstreichs handle” (zusammengefasst von Otto Kirchheimer, Politische Justiz, S. 444f.). Dabei wäre es selbst für diesen angenommenen Fall Hochverrat gewesen, da die Organe des Staates für die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig gewesen wären und keine selbsternannte Miliz, der sich die existierende Verwaltung in Bests Szenario ja sogar noch unterstellen sollte. War der Plan Bests in vielen Punkten auch realitätsfern, so kam es doch auf die Absicht an: “Das Bestsche Szenario verlieh vielmehr den Gewaltphantasien der Rechten ein legalistisches Gewand, indem es die Rechtsdiktatur zur defensiven Notstandsmaßnahme stilisierte und so radikales, brutales Handeln und die Wahrung der ‘rechtlichen Formen’ miteinander verband.” (Herbert, S. 129).
Doch Brüning übte nach der ganz anderen Bewertung durch seinen Justizminister Druck auf den Oberreichsanwalt Karl August Werner aus, die Affäre “herunterzuspielen” (Winkler, ebd.). Vielleicht war dieser Druck gar nicht nötig gewesen, schon am Tag der Veröffentlichung der Boxheimer Dokumente bezweifelte Werner öffentlich, dass sie sich gegen die bestehende politische Ordnung richteten (cf. Herbert, S. 130). Best wurde sofort disziplinarisch aus seinem Richteramt suspendiert, blieb aber Landtagsabgeordneter, eine juristische Untersuchung wurde zwar eingeleitet, zu einem Prozess kam es aber nicht.
Fast zeitgleich mit der Enthüllung der Boxheimer Dokumente endete am 23.11.1931 der Prozess gegen Carl von Ossietzky und Karl Kreiser als Autoren eines Artikels in der Weltbühne unter der Anklage auf militärischen Geheimnisverrat mit einem Schuldspruch und einer verhängten Strafe von 18 Monaten Haft (durch die Weihnachtsamnestie 1932 vorzeitig beendet), ein politischer Justiz- skandal, der international Aufsehen erregte, nicht nur aufgrund der Anschuldigung, sondern auch und vor allem aufgrund des Verfahrens, bei dem die Zeugen der Verteidigung abgelehnt, deren Beweisantrag ignoriert und überhaupt “hinter verschlossenen Türen” (Ossietzky) verhandelt wurde.
Für die geschäftsmäßig amtierende hessische Landesregierung unter Staatspräsident (= Minister- präsident) Bernhard Adelung und Innenminister Wilhelm Leuschner (beide SPD) ging es politisch darum, dank der Boxheimer Dokumente die Legalitätstaktik der NSDAP zu entlarven und die sich anbahnende Mehrheitsbildung zwischen NSDAP und Zentrum zu verhindern.
Fortsetzung 1932
Leider hatte sich der Volksstaat Hessen schon mit der Wahl vom November 1931 an die Spitze der Rechtsentwicklung in Deutschland gesetzt, weder in Thüringen noch in Braunschweig hatte die NSDAP so viele Stimmen bekommen, und dies ging leider auch so weiter.
Nach der Veröffentlichung der Boxheimer Dokumente musste die Zentrumsfraktion erst einmal von weiteren Gesprächen mit der NSDAP Abstand nehmen. Bei der Neuwahl des Landtags am 19.6.1932 aufgrund einer Ungültigkeitserklärung der Wahl von 1931 (wegen einer fehlerhaften Nichtzulassung der Wirtschaftspartei) sprang die NSDAP auf 44%, (+6,9), die SPD gewann sogar leicht dazu und kam auf 23,1% (+1,7), die KPD nur auf 11% (-2,6), das Zentrum blieb nahezu gleich bei 14,5%. Damit verschob sich das Gewicht aber noch weiter nach rechts, 1931 hätten die demokratischen Parteien inkl. DVP immerhin noch eine knappe relative Mehrheit gegenüber NSDAP und Landvolk gehabt (aber eben keine absolute aufgrund der KPD), nun war aber auch dies nicht mehr der Fall.
So kam das Zentrum den Nazis offenbar noch weiter entgegen. Jedenfalls berichtete Best seiner Parteiführung, dass Bockius für die hessische Zentrumspartei nun ”unbedingt zu einer Einigung” gelangen wolle und dass sich Brüning, damals schon nicht mehr Kanzler, auch auf Reichsebene in der Partei für so ein Bündnis einsetzen würde.
Bockius war gleichwohl kein Sympathisant der Nazis, das belegen einige Unterlagen, und später wurde er nach dem Stauffenberg-Attentat wie viele andere verhaftet und starb im März 1945 im KZ Mauthausen. Umso verwunderlicher ist die Rolle, die er hier gespielt hat.
Zur Koalition mit der NSDAP in Hessen kam es dennoch auch 1932 nicht, obwohl nicht mehr viel dazu fehlte: ”Das Zentrum sah als Problem nur noch die von den Nazis angestrebte Einstellung von SA-Männern als Hilfspolizisten, während gegen Bests Absicht, die hessische Polizei ’ganz gründlich aufräumen und säubern’ zu wollen, prinzipiell keine Einwände erhoben wurden. […] Das Scheitern des Versuchs lag nicht am Zentrum, sondern an Hitler und der Münchener NS-Reichsleitung, die dahinter eine Variante des ’Zähmungskonzepts’ vermutete und die sich nicht auf parlamentarische ’Bewährungsproben’ einlassen wollten (Augustin u.a., S. 49).
Schließlich brachte der Reichstagsbrand die Situation, die Best in seinem Szenario ausgemalt hatte, und aufgrund der Notverordnung wurde im März 1933 in Hessen ein Staatskommissar eingesetzt, der nationalsozialistische Landtagspräsident Heinz Müller. Er ersetzte jedoch noch nicht die Landes- regierung insgesamt, sondern vor allem den zum Rücktritt gezwungenen Innenminister Leuschner, um die Kontrolle über die Polizei zu bekommen, wofür Werner Best als Sonderkommissar berufen wurde. Nach der Reichstagswahl vom 5.3.1933 wurde dann mit den Stimmen des Zentrums am 13.3. der NSDAP-Abgeordnete Ferdinand Werner zum neuen Regierungschef gewählt.
Wertung im Rückblick
Die Situation in Hessen war verfahren, aber der dortige Erfolg der NSDAP und die Boxheimer Dokumente hätten dem Reichskanzler und den demokratischen Parteien im Reich zeigen sollen, wohin die Reise ging, wenn dem nicht entgegengesteuert wurde. Brüning sah jedoch keinen Grund zur Kurskorrektur, offenbar unter dem Einfluss von Groener und Streicher verfolgte er seine Absicht weiter, auf die NSDAP zuzugehen, wie es schon in einem Gespräch zwischen Brüning und Hitler am 10.10.1931, also bereits vor der hessischen Landtagswahl, zum Ausdruck gekommen war. Doch abgesehen davon, dass Hitler Brüning nur hinhalten wollte, was dieser jedoch nicht verstand, wäre eine offizielle Zusammenarbeit schon wegen der anstehenden weiteren Reparationsverhandlungen international nicht zumutbar gewesen. Mit einer Zustimmung Hitlers zur Wiederwahl Hindenburgs wäre aber für Brüning dann 1932 auch eine formelle Regierungskoalition anvisiert worden (cf. Herbert, S. 124, Winkler, S. 449f.).
Dabei hatten die demokratischen Parteien im Reichstag auch nach der Wahl vom September 1930 noch eine rechnerische Mehrheit, es fehlte nur am politischen Willen. Alleine SPD und Zentrum plus BVP hatten mit 39,3% Stimmen zusammen mehr als die republikfeindlichen Parteien NSDAP, DNVP und KPD zusammen (38,4%) - und selbst ohne die BVP, die konservativer war als ihre alte Mutterpartei, das Zentrum, und stattdessen mit der Staatspartei (Nachfolgerin der DDP) wären es sogar noch 0,8% mehr gewesen. In solch einer Minderheitsregierung, in der Weimarer Republik gar nicht unüblich, hätte allerdings auch die SPD weitere Kompromisse eingehen müssen. Besser als die Präsidialkabinette Brünings zu tolerieren, wäre es allemal gewesen. Hätte Reichspräsident Hindenburg mitgespielt? Vermutlich hätte er nicht gewollt, hätten sich aber das Zentrum und andere Demokraten einer Neuauflage der Präsidialregierung verweigert, wären ihm 1930 kaum andere Möglichkeiten geblieben.
Doch die Erfolge der NSDAP machten ihre Gefahr in der Wahrnehmung in bürgerlichen Kreisen offenbar nicht größer, sondern geringer, die Enthüllungen, die unverhüllte verbale Gewaltpropaganda und die ständigen gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Realität, “auf der Straße”, änderten nichts daran bis zum SA-Verbot durch die Notverordnung vom 13.4.1932, was jedoch zu spät kam und letztlich zum Sturz Brünings beitrug. Mit ihrer Legalitätstaktik schien sich die NSDAP auf dem Weg zur Integration in die staatliche Ordnung zu befinden, obwohl man täglich sehen konnte und auch sah (z.B. Wirth, siehe oben), dass das Gegenteil der Fall war, auch wenn die Parteiführung sich von den Ausschreitungen der eigenen Parteigenossen vor Ort durch Lippenbekenntnisse distanzierte.
Hinzu kam ein formalistisches Demokratieverständnis, das zwischen Absicht und Methode des Umsturzes unterschied und verfassungsfeindliche Ziele tolerierte, wenn sie denn gewaltfrei, legal auf dem Weg zu einer Mehrheit verfolgt wurden. Ähnliches zeigte sich ganz generell in der Recht- sprechung, v.a. gegenüber der antisemitischen Hasspropaganda, bei der die justiziable “aufreizende Wirkung” von Worten immer wieder heruntergespielt oder sogar bestritten wurde (cf. Walter, Antisemitische Kriminalität..., v.a. S. 89-96). Und nicht nur in der Beamtenschaft waren National- sozialisten zugelassen, selbst in der Justiz wurden offen antidemokratische Einstellungen nicht geahndet. “Um Kommunisten auszugrenzen, reichte das Instrumentarium der offenen Weimarer Verfassung leicht aus. Gegenüber Nationalsozialisten blieben diese Instrumente ungenutzt.” (Jasper, S. 74).
Carl von Ossietzky hatte die Bedeutung der Boxheimer Dokumente sofort erkannt, über seinen zeitgleich stattfindenden Prozess schrieb er 1931: “Wenn im Dritten Reich erst einmal nach der Plattform von Boxheim regiert werden wird, dann werden Verräter wie Kreiser und ich ohne Aufhebens füsiliert.” (Die Weltbühne, 1.12.1931, siehe oben).
Wolfgang Geiger
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